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MEXIKO
Alle Jahre wieder – der Zustand der Strafjustiz in Mexiko

Hallazgos MEXIKO
© Fundación Friedrich Naumann (Alfredo Suárez)

Mexiko hat ein gewaltiges Problem mit Rechtlosigkeit und weitgehender Straflosigkeit auch bei schwersten Verbrechen: Über 90% aller Straftaten werden Umfragen zufolge nicht angezeigt, und von den angezeigten Straftaten bleiben über 90% ungeahndet. Diese Situation muss vor dem Hintergrund einer seit Jahren anhaltenden Gewaltwelle gesehen werden: in den letzten Jahren lag allein die Zahl der Morde pro Jahr über 30.000.

Dank der mutigen Organisation México Evalúa (Mexiko Evaluiert) wird das Ausmaß des Problems jedes Jahr neu analysiert und in eine Rangliste aller Bundesstaaten überführt.Seit 8 Jahren unterstützt die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit diese umfassende Untersuchung. Anfang Oktober war es wieder soweit, und der Bericht für das Jahr 2021 wurde in Mexiko-Stadt vorgestellt. Dieses Jahr wurde die Veranstaltung zu einer zweitägigen Konferenz ausgedehnt. Am ersten Tag wurden zwei nichtöffentliche Workshopsdurchgeführt, einen mit Gerichten, einen mit Staatsanwaltschaften, am zweiten Tag realisierte die NGOzwei Workshops zur Betreuung von Verbrechensopfern.

Der Bericht zeigt Licht und Schatten. Auf der positiven Seite ist zu verzeichnen, dass der Grad der Straflosigkeit im Vergleich zu 2020 von 94,8% leicht auf 91,8% gesunken ist. Etliche Bundesstaaten haben klarere Prioritäten hinsichtlich der Bearbeitung von verschiedenen Delikten gesetzt, und die Nutzung von außergerichtlichen Regelungen und Einigungen wurde verbessert. Die Zahl der illegalen Festnahmen, die von Gerichten gerügt wurden, haben sich deutlich verringert, von 26% auf 15%. Angesichts der großen Zahl von Untersuchungshäftlingen, die teils Jahre auf ihren Prozess warten, ist vom Obersten Gerichtshof ausgehend auch eine Diskussion in Gang gekommen, die Verhängung von Untersuchungshaft deutlich einzuschränken. Außerdem hat sich der Personalstand in den kritischen Bereichen des Justizsystems erhöht – angesichts der chronischen Überlastung des Systems ein positiver Trend.

Auf der Schattenseite ist zu verzeichnen, dass es nach wie vor weder auf der nationalen noch auf der einzelstaatlichen Ebene eine ausreichende systematische Planung gibt, wie der Ressourceneinsatz prioritär gestaltet werden soll, d.h. auf welche Delikte man sich konzentrieren muss. Auch fehlt es in nahezu allen Bundesstaaten mit Ausnahme von Querétaro, Nuevo León und Coahuila de Zaragoza, an Mechanismen zu einer besseren Koordination zwischen Polizei, Staatsanwaltschaft, Justizverwaltung und Gerichtswesen. Auch wenn weniger illegale Festnahmen vorkommen, hat die Verhängung von Untersuchungshaft zugenommen (s.o.), und nur in etwa 20% der Fälle kommt es tatsächlich zu einer Verurteilung. Die Initiative der Bundesstaatsanwaltschaft zur weiteren Reform des Justizwesens, zu dessen technischer Unabhängigkeit und zur stärkeren Professionalisierung ist nahezu völlig zum Erliegen gekommen. Schließlich sind die Systeme zum Schutz der Opfer von Verbrechen noch stärker überlastet und ihre Effektivität ist weiter gesunken.

Die Kriminalität verharrt weiter auf hohem Niveau mit einem Anstieg aller registrierten Straftaten im Land – die Dunkelziffer ist weit höher – um 11% auf 2.040.000. Besonders stark angestiegen im letzten Jahr sind Anzeigenvon Vergewaltigungsdelikten – um 28% auf über 21.000, und Gewalt in der Familie um 15% auf 254.000. Die Zahl der registrierten Morde ist dagegen insgesamt leicht gesunken, um 2% auf 28.300, die Gesamtheit der Frauenmorde ist jedoch um 2% auf 966 Opfer angestiegen.

Die Dunkelziffer bei den Verbrechen insgesamt liegt mit etwa 93% sehr hoch, bei Erpressung sogar bei über 97%, im Falle von Vergewaltigung immer noch bei schrecklichen 78%. Die Gründe dafür sind verschiedene, das extrem geringe Vertrauen in die Justiz ist sicher ein Hauptgrund, und das kommt angesichts der weitverbreiteten Straflosigkeit nicht von ungefähr. Die Komplexität und Dauer der Verfahren, mangelnder Opferschutz und Furcht vor Übergriffen durch die Polizei sind weitere Faktoren.

Das Ausmaß der Straflosigkeit ist zwar leicht gesunken, verharrt aber immer noch bei über 91%. Besonders hoch ist sie bei Entführung (98,9%), Erpressung (98,2%), Gewalt in der Familie (97,2%) und Mord (96,9%).

Der Bericht untersucht dann die Situation in den 32 verschiedenen Bundesstaaten hinsichtlich der Qualität ihrer Justizsysteme und dem Grad der Straflosigkeit und ordnet sie in einer Rangliste. Dabei zeigen sich vor allem in der Qualität der Systeme, ihrer technischen Ausstattung, Planung, Koordinierung und Transparenz gewaltige Unterschiede. Die Idealpunktzahl von 1.200 erreicht kein Bundesstaat, aber es gibt eine Spitzengruppe von drei Bundestaaten – Querétaro(1.012 Punkte), Nuevo León und Coahuila, die über 900 Punkte erreichen. Das wünschenswerte Niveau von 1.100 erreicht allerdings keiner. Am unteren Ende der Rangliste liegen 8 Bundesstaaten mit unter 400 Punkten, Schlusslicht ist Morelos mit 241. Auffallend ist dabei, dass die Spitzengruppe von Bundestaaten mit hohem Anteil der Exportindustrie gebildet wird. 

Wenn es um die Straflosigkeit und damit zusammenhängend um den Grad der Effektivität des Systems geht, ergibt sich einanderes Bild: Dort liegt Yucatán weit vorne, mit einer Straflosigkeit von 69,5%, gefolgt von Baja California und Chiapas mit unter 80%. Am unteren Ende rangieren San Luis Potosí und Mexiko-Stadt mit über 98%. Diese Rangliste ist allerdings schwerer interpretierbar, weil die Drogenkartelle, auf deren Konto ein großer Teil der Kriminalität geht, vor allem im Zentrum und Norden stark vertreten sind, im Süden und Yucatán deutlich weniger.

Was ist zu tun? Von der Bundesregierung ist wenig zu erwarten, die Bundesstaatsanwaltschaft hat ihre Reformbemühungen weitgehend eingestellt, und der Präsident hat NGOs wie Mexico Evalúa des Öfteren aufgrund ihrer kritischen Haltung namentlich kritisiert. Das Thema hat bei ihm leider keine Priorität. Dagegen tut sich auf der Ebene der Einzelstaaten einiges, und zwar unabhängig, welche Partei am Ruder ist. Es wäre daher unfair, der Präsidentenpartei Morena generell Desinteresse vorzuwerfen. Gerade Staaten aus der Spitzengruppe wie Coahuila de Zaragoza und Nuevo Leónhaben Mexico Evalúa eingeladen, ihre Systeme vor Ort genauer zu untersuchen und bei der Erarbeitung von Reformen zu unterstützen. Deshalb bringt Mexiko Evalúa nun auch spezielle Berichte zu einzelnen Staaten heraus. Vertreter mehrerer Staatsanwaltschaften und Justizverwaltungen haben an den diesjährigen Workshops teilgenommen und beteiligen sich auch an anderen Veranstaltungen zum Thema Justizreform. 

Dabei stehen vor allem Fragen der institutionellen Stärkung im Vordergrund: Nötig sind deutlich bessere Planung und Priorisierung des Ressourceneinsatzes; einige Bundesstaaten wie Querétaro haben durch neue Systeme auch ohne zusätzliche Budgets deutliche Fortschritte erzielt und über ihre Erfahrungen berichtet. Wichtig ist auch eine bessere Arbeitsorganisation in den Staatsanwaltschaften und Justizverwaltungen, damit die wichtigsten Delikte prioritär behandelt werden anstatt nach Zeitpunkt der Anzeige, und um zu vermeiden, dass die temporäre Speicherung nicht zum Dokumentengrab wird. Auch dem Opferschutz muss deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Insgesamt wird eine Verbesserung der Situation aber nicht ohne eine deutliche Erhöhung der Budgets der öffentlichen Haushalte für die rechtsstaatlichen Institutionen zu realisieren sein. Angesichts der absoluten Priorisierung von Sozialausgaben und der weiter fortschreitenden Übertragung von Aufgaben der inneren Sicherheit an das Militär auf der nationalen Seite, und dem geringen finanziellen Spielraum der Einzelstaaten auf der anderen Seite, ist eine durchgreifende Besserung kurzfristig nicht in Sicht. Andererseits geben die vielen kleinen Schritte auf den unteren Ebenen und die gewachsene Bereitschaft etlicher staatlichen Stellen, vertrauensvoll mit fachkundigen Nichtregierungsorganisationen wie Mexiko Evalúa zusammenzuarbeiten, Anlass zur Hoffnung und bestärken uns darin, dieser Arbeit weiterhin eine hohe Priorität einzuräumen.