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IMPFSTRATEGIE
So will Indien Hunderte Millionen Menschen gegen das Coronavirus impfen

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Das südasiatische Land hat gute Aussichten auf schnelle Impferfolge: Es verfügt über eine starke Pharmaindustrie und organisiert die logistische Mammutaufgabe über eine zentrale digitale Plattform. Mangelndes Vertrauen in die Impfstoffe stellt die Regierung jedoch vor eine Herausforderung.

Indien hat am Wochenende seine ambitionierte Coronavirus-Impfkampagne gestartet – mit dem Ziel, innerhalb weniger Monate Hunderte Millionen Menschen zu immunisieren. Premierminister Narendra Modi sprach von der größten Impfaktion der Welt. Es gibt Grund zur Zuversicht, dass Indien die Mammutaufgabe stemmen kann: Schließlich organisiert das südasiatische Land alle fünf Jahre die größte Wahl der Welt. Das dabei gewonnene logistische Know-how floss auch in die Planung der Impfmission ein. Außerdem kann das Land auf Erfahrungen mit früheren Massenimpfungen zurückgreifen: Im vergangenen Jahrzehnt gelang es Indien, mit der Impfung Hunderter Millionen Kinder, Polio auszurotten.

Indien kann derzeit auf zwei Coronavirus-Vakzine zurückgreifen, die Anfang Januar per Notfallgenehmigung zugelassen wurden: Covishield des Impfstoffherstellers Serum Institute of India (SII) und Covaxin des Pharmaunternehmens Bharat Biotech. Der Leiter der Zulassungsbehörde, Venugopla Somani, warb um Vertrauen für die Impfstoffe: „Wir werden niemals einen Impfstoff genehmigen, für den auch nur geringste Sicherheitsbedenken bestehen. Die Impfstoffe sind zu 110 Prozent sicher“, sagte er. Nebenwirkungen wie leichtes Fieber, Schmerzen und Allergien könnten allerdings wie bei jedem Impfstoff auftreten.

Die Genehmigung erfolgte auf der Grundlage von Empfehlungen eines Expertenausschusses der Central Drugs Standard Control Organisation – dem indischen Gegenstück zur Europäische Arzneimittelagentur EMA. Das Verfahren stieß aber auf Kritik: Die Daten, die Grundlage für die Entscheidung waren, wurden nicht veröffentlicht. Ärzte beklagten insbesondere, dass Covaxin die Genehmigung lediglich aufgrund von Phase-1- und Phase-2-Tests erhielt. Die entscheidende dritte Testphase mit einer größeren Zahl an Probanden hatte zum Zeitpunkt der Zulassung noch gar nicht begonnen. Die frühzeitige Notfallgenehmigung bringt nun die Gefahr mit sich, das Vertrauen in den Impfstoff nachhaltig zu beschädigen.

Etwas günstiger ist der Fall Covishield: Der Impfstoff ist ein Derivativ des gemeinsam von der Universität Oxford und dem Pharmaunternehmen AstraZeneca entwickelten Impfstoffs. Dieser wurde unter anderem bereits in Großbritannien und Brasilien zugelassen. Der indische Hersteller SII ist gemessen an der Zahl produzierter Impfdosen der größte Impfstoffhersteller der Welt – und verfügt über ein großes Team erfahrener Forscher.

Die Überzeugungsarbeit, die Impfstoffhersteller und die zuständigen Behörden noch leisten müssen, ist aber groß: In einer Anfang Januar veröffentlichten Umfrage der Online-Plattform LocalCircles, zeigten sich nur 26 Prozent der befragten Inderinnen und Inder bereit, sich so bald wie möglich impfen lassen. 69 Prozent gaben an, zunächst abwarten zu wollen. In Europa und Amerika entwickelte Impfstoffe stoßen offenbar auf größere Zustimmung: 61 Prozent der Befragten wünschen sich, dass der Impfstoff der Pharmaunternehmen Pfizer und BioNTech sowie das Vakzin des US-Herstellers Moderna auch in Indien genehmigt werden. Die Umfrage wurde in den Tagen kurz vor und nach der Zulassung durchgeführt.

Eine weitere große Herausforderung ist die Herstellung der erforderlichen Dosen. Das SII ist zwar in der Lage, 5.000 Dosen pro Minute herzustellen. Selbst bei diesem Tempo würde es aber weit über ein Jahr dauern, genug Impfdosen für die gesamte Bevölkerung zu produzieren.

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Wer bekommt den Impfstoff?

Der vom Gesundheitsministerium für Coronavirus-Impfungen erstellte Plan sieht vor, in der ersten Phase fast 300 Millionen Menschen zu impfen. Zehn Millionen Beschäftigte im Gesundheitswesen und 20 Millionen Mitarbeiter, die in der öffentlichen Verwaltung an „vorderster Front“ die Pandemie bekämpfen, sollen als erste den Impfstoff erhalten. Anschließend sollen 270 Millionen Menschen über 50 Jahre sowie Unter-50-Jährige mit Komorbiditäten geimpft werden. Die verbleibende Bevölkerung wird später geimpft – höchstwahrscheinlich wenn der Impfstoff als freiverkäufliches Vakzin auf den Markt kommt.

Für die Registrierung der zu impfenden Personen wurden eine App und eine Website mit dem Namen Co-WIN entwickelt. Personen können sich in der Co-WIN-App eintragen, einen Termin vereinbaren und ihre Identität verifizieren. Nach der Verabreichung der ersten Dosis werden Nutzer automatisch erinnert, rechtzeitig einen Termin für die zweite Dosis zu vereinbaren. Der gesamte Prozess ist digital und setzt auf Indiens biometrischem Identifikationssystem Aadhaar auf. Das System ist in der Vergangenheit gelegentlich von Datenschutzaktivisten kritisiert worden. Jetzt zu Beginn der Impfkampagne spielen diese Bedenken aber keine Rolle.

SII hat mit AstraZeneca eine Vereinbarung über die Herstellung von insgesamt einer Milliarde Dosen abgeschlossen. Die ersten 100 Millionen Dosen will das Unternehmen jeweils für umgerechnet rund 2,50 Euro an die indische Regierung verkaufen. Der Preis für den ebenfalls geplanten freien Verkauf soll ungefähr fünfmal höher sein. Das Unternehmen verhandelt auch über Lieferverträge mit Bangladesch, Marokko und Saudi-Arabien und hat Anfragen aus Myanmar und Brasilien erhalten. Zwischen der russischen und der indischen Regierung laufen zudem Verhandlungen über die Produktion von bis zu 300 Millionen Dosen des russischen Impfstoffs Sputnik V.

Lehren aus der indischen Impfkampagne

Indiens Impfstoffhersteller, allen voran das Serum Institute of India, haben sich spezialisiert auf die kostengünstige Massenproduktion von Impfstoffen. Die indische Regierung plant, den Impfstoff für Mitarbeiter im Gesundheitssystem und in der öffentlichen Verwaltung sowie für bedürftige Menschen kostenfrei abzugeben. Die Vergabe von Terminen, die Verifizierung der Identität von geimpften Personen und die Überwachung der Kühlkette läuft komplett auf einer digitalen Plattform, die in kurzer Zeit entwickelt wurde und schnell skaliert werden kann. In Verbindung mit Indiens Aadhaar-System ist ein robustes System entstanden, das durch offene Standards auch in anderen Ländern schnell und kostengünstig aufgebaut werden kann.