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Wirtschaft
Indien: Das neue China?

Streets of Old Delhi

Streets of Old Delhi

© Xavierarnau for Getty Images via Canva Pro

Was haben Sie vor 35 Jahren gemacht? Einige werden sich kaum erinnern können, viele hingegen schon. 70% aller heute in Deutschland lebenden Menschen waren bereits auf der Welt, deutlich mehr als 50% waren alt genug, um Erinnerungen an die Zeit zu haben. Vieles was wir heute kennen, war auch vor 35 Jahren bereits vorstellbar und erkennbar: Raumfahrt, die ersten Computer, Hochgeschwindigkeitszüge. Andere Dinge schienen undenkbar: Die deutsche Wiedervereinigung, das Wachstum des World Wide Web, Griechenlands Fußballeuropameistertitel. In die zweite Kategorie fällt der Aufstieg Chinas. Ende der 1980er Jahre waren Indien und China gleichermaßen arm, die pro-Kopf-Wirtschaftsleistung etwa gleich hoch. In den darauffolgenden dreieinhalb Jahrzehnten wuchs China spektakulär – so spektakulär, dass die chinesische Wirtschaft heute etwa fünf Mal so groß ist wie die indische, und das, obwohl Indien im gleichen Zeitraum auch mit durchaus respektablen Raten gewachsen ist.

31 Aug.
31.08.2023 12:00 Uhr
virtuell

India’s Demographic Milestone

Prospects and Obstacles

Chinas Vorsprung vor Indien wirkt heute nahezu uneinholbar. Und doch stehen die beiden asiatischen Giganten möglicherweise an einem Wendepunkt. Chinas Erfolge im Kampf gegen die COVID-Pandemie sind weitgehend vergessen, der kräftige Aufschwung nach dem Aufheben der Einschränkungen blieb weitgehend aus. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch, der Immobilienmarkt befindet sich in der Dauerkrise. Der Krieg in der Ukraine hat vielen Politikern und Unternehmen in Europa und den USA die Gefahr der Abhängigkeit von China vor Augen geführt.

Auf der anderen Seite wirkt es so, als schiene die Sonne auf Indien. Zwei Jahre in Folge war das Land die am schnellsten wachsende große Volkswirtschaft, nach Schätzungen der Weltbank wird dies auch 2023 und 2024 der Fall sein. Zum Missfallen der Europäer und Amerikaner kauft Indien seit Beginn des Krieges günstiges russisches Öl und spart jedes Jahr Milliarden, um gleichzeitig doch von der EU und insbesondere den USA umworben zu werden. Als Gegengewicht zu China ist das Land als Partner unverzichtbar, so die Logik. Aus diesem Grund – aber auch weil das Land momentan den G20-Vorsitz innehat – geben sich Staats- und Regierungschefs sowie ranghohe Minister und Diplomaten am Flughafen in Delhi regelrecht die Klinke in die Hand. Allein aus Deutschland waren in diesem Jahr bereits Kanzler Scholz sowie die Ministerinnen und Minister Baerbock, Lindner, Schulze und Pistorius zu Gast. Robert Habeck wird in der kommenden Woche in Delhi zu Gast sein.

Wachstumsraten ausgewählter Volkswirtschaften (Quelle: Weltbank)

Wachstumsraten ausgewählter Volkswirtschaften

© Quelle: Weltbank

In diese Phase fiel Ende April der Moment an dem Indien China als das bevölkerungsreichste Land ablöste, ein Moment, der das Gefühl von Zeitenwende im Verhältnis beider Länder unterstrich. Bevölkerungswachstum wird zumindest für den Augenblick nicht als Geisel wahrgenommen, die das Land in seiner Entwicklung hindert, sondern als Machtfaktor und Ausdruck der Stärke. Viele fragen sich jedoch, ob die Euphorie anhalten kann oder ob Indien am Ende (doch wieder) enttäuschen wird. Was werden die kommenden 35 Jahre bringen?

Indien profitiert von einer günstigen demografischen Entwicklung. Kamen im Jahr 1990 noch 73 Kinder (unter 15 Jahren) und Senioren (über 64 Jahre) auf jeden Erwerbsfähigen, waren es 2021 nur noch 48. Da sowohl die Zahl potentieller Mütter wie auch die Zahl der Babies, die eine Frau im Durchschnitt im Leben haben wird, weiter fällt, wird das Verhältnis abhängiger zu erwerbsfähiger Menschen bis in die frühen 2030er Jahre weiter fallen, allerdings nur noch leicht auf etwa 45. Durch die gegenläufig steigende Zahl von Senioren, nimmt diese sogenannte Abhängigkeitsrate dann langsam zu. Indiens Wirtschaft wird in den nächsten 10 Jahren allein durch den weiter steigenden Anteil erwerbsfähiger Menschen weiter wachsen. China hat diesen Punkt – auf Grund der rasant wachsenden Zahl von Senioren – bereits vor 10 Jahren erreicht! Noch in diesem Jahrzehnt wird Chinas Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung unter den Indiens fallen.

Abhängigkeitsraten China und Indien

Abhängigkeitsraten China und Indien

© Quelle: Weltbank

Um diese günstige demografische Entwicklung nutzen zu können, müssen jedoch die Rahmenbedingungen stimmen. Ein stetig wachsender Anteil von Erwerbsfähigen nützt nichts ohne entsprechende Arbeitsplätze. Indien ist es bisher nicht gelungen, ausreichend Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor und insbesondere in der Industrie zu schaffen. In der wenig produktiven Landwirtschaft arbeiteten deshalb 2021 noch 44% aller Erwerbstätigen, obwohl der Sektor nur noch 16,8% zur Wirtschaftsleistung beitrug. Die Regierung ist sichtlich bemüht, die Rahmenbedingungen zu verbessern. Die Stromversorgung und die Qualität der Straßen haben sich erheblich verbessert. Zugstrecken wurden modernisiert, See- und Flughäfen gebaut. Das Arbeitsrecht modernisiert (wenngleich eine weit umfangreichere Reform seit Jahren feststeckt), die Mehrwertsteuer landesweit vereinheitlicht, Förderprogramme zur Stärkung der Industrie aufgelegt und in Berufsschulen investiert.

Trotz einiger Erfolge – Apple plant 25% aller iPhones in Indien zu produzieren, Indien exportiert mittlerweile mehr KFZ als Deutschland – könnten die Bemühungen der Regierung „too little, too late“ sein. Indien hatte einen für nicht-industrialisierte Länder ungewöhnlichen Weg gewählt und in der Entwicklung auf verhältnismäßig kapitalintensive Industriezweige (Chemie, Schwerindustrie, Automobil) gesetzt statt wie Nachbarländer oder auch China auf arbeitsintensive Zweige (Textil, Lebensmittelverarbeitung) gesetzt. Moderne Fabriken brauchen zudem schlicht weniger Arbeiter.

Im Dienstleistungssektor werden bereits heute knapp 50% der Wirtschaftsleistung erbracht, nicht zuletzt dank der hochprofessionellen und global wettbewerbsfähigen IT-Branche. Nach den USA, dem Vereinigten Königreich und der EU erzielt Indien den höchsten Exportüberschuss bei Dienstleistungen. China hingegen importiert weit mehr Dienstleistungen als es exportiert.

Exportüberschuss Dienstleistungen

Exportüberschuss Dienstleistungen

© Quelle: Weltbank

Die beeindruckenden Zahlen täuschen jedoch über die (geringe) Bedeutung für den Arbeitsmarkt hinweg. Nach Angaben des Branchenverbands NASSCOM sind in der IT-Branche direkt nur etwa 5,1 Mio. Menschen angestellt. Auch der Dienstleistungssektor ist dominiert von Arbeitsplätzen in wenig produktiven Bereichen wie dem Sicherheitsgewerbe, dem Einzelhandel oder von sogenannten Gig Workers (nicht festangestellte Personen, die für app-basierte Dienste wie Uber arbeiten).

Ausreichend Arbeitsplätze zu schaffen wird eine Herausforderung bleiben. Die größte Herausforderung, um das produktive Potential der indischen Bevölkerung nutzbar zu machen, ist hingegen die Integration von Frauen. Während die Regierung die Rahmenbedingungen für Industrie- und Dienstleistungs­unternehmen verbessert, bewegt sich die Erwerbsbeteiligung von Frau in die falsche Richtung. Schätzungen von Bloomberg zufolge könnte Indien Wirtschaftsleistung ein Drittel höher sein, wenn Frauen im gleichen Maß wie Männer am Erwerbsleben teilnähmen. Chinas Wirtschaft wäre dann weniger als viermal so groß wie Indiens.

Um wirtschaftlich zu China aufzuschließen muss Indien den vor über 30 Jahren begonnenen Liberalisierungskurs fortsetzen. Bisherige Initiativen der Regierung stimmen vorsichtig optimistisch, dass dies – trotz gelegentlicher Rückschläge – gelingen wird. Begünstigend wirkt, dass viele Unternehmen nach alterativen Produktionsstandorten und Absatzmärkten zu China suchen. Als bevölkerungsreichstes Land spielt Indien in aller Regel eine Rolle in diesen Überlegungen.

Ein Risiko bleibt die Schwächung demokratischer Institutionen. Indiens Position in einschlägigen Indizes hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Intransparente Prozesse und willkürliche Entscheidungen sind Gift für Investitionen. Trotz der Verschlechterung in der jüngeren Vergangenheit, besteht nicht zu befürchten, dass sich dieser Trend unvermindert fortsetzt. Indien ist ein Land mit einer langen demokratischen Tradition und die sehr diverse Wählerschaft reagiert sensibel auf eine zu große Machtkonzentration. Trotz einer deutlichen Mehrheit im Unterhaus des Parlaments verfügt die regierende Bharatiya Janata Party (BJP) deshalb bis heute nicht über eine Mehrheit im Oberhaus. Regelmäßige Niederlagen bei wichtigen Landtagswahlen und Proteste einer lauten Zivilgesellschaft waren bisher ein starkes Korrektiv. Auch wenn diese Sicht in Indien nicht uneingeschränkt geteilt wird, können internationale Partner einen Beitrag zu Indiens Entwicklung leisten, indem sie zivilgesellschaftliche Organisationen stärken.

Es gehört viel Optimismus dazu, zu glauben Indien könnte in den kommenden 35 Jahren zu China aufschließen. Die Lücke wird allein auf Grund der wesentlich günstigeren demografischen Entwicklung gleichwohl deutlich kleiner werden und bis zum Ende des Jahrhunderts geschlossen sein. Die Europäische Union und die USA wird Indien zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich bereits überholt haben.