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Local Politics
Moses Elisaf: Griechenlands erster jüdischer Bürgermeister und liberaler Vorreiter

Moisis
Dr. Athanasios Grammenos, Projektmanager im Athener Stiftungsbüro, und Apostolos Siokas, Koordinator des griechischen Netzwerks liberaler Kommunalpolitiker, haben Moses Elisaf in Ioannina besucht. © Friedrich Naumann Foundation for Freedom Greece

Die Bürgermeisterwahl in einer mittelgroßen Stadt Griechenlands ist normalerweise kein Ereignis, das im Ausland Beachtung findet. Handelt es sich bei dem neu gewählten Bürgermeister um einen liberalen Politiker – eine Seltenheit in einem Land, in dem der politische Liberalismus einen schweren Stand hat – sieht das schon anders aus. Noch interessanter wird es, wenn der erste Bürgermeister Griechenlands jüdischen Glaubens ist.

„Ich konnte es kaum fassen“, erinnert sich der neugewählte Bürgermeister Ionninas, Moses Elisaf an den Moment, als das Ergebnis der Stichwahl feststand. Dabei ging die zweite Runde zwischen ihm und seinem Kontrahenten denkbar knapp aus: 50,3% für den parteilosen Elisaf, 49,7% für den damals amtierenden Bürgermeister der sozialistischen SYRIZA-Partei. Seit September des vergangenen Jahres leitet der seriös wirkende Elisaf die Geschicke Ioanninas, einer Stadt im Nordwesten Griechenlands mit knapp 70.000 Einwohnern.

Der Wahlsieg des 65-Jährigen hätte eigentlich gar keine so große Überraschung sein müssen: Elisaf ist Sohn Ioanninas, lebt und arbeitet dort als Facharzt für Pathologie, ist Professor an der dortigen Universität, Präsident des Kulturzentrums und schon seit Jahren Mitglied im Stadtparlament – beste Voraussetzungen also, um bei Kommunalwahlen in einer Stadt dieser Größenordnung Erfolg zu haben. Doch seine Herkunft macht seine Wahl zum Bürgermeister zu etwas Einzigartigem: Elisaf ist der erste Bürgermeister Griechenlands mit jüdischem Hintergrund seit dem 2. Weltkrieg und den Pogromen gegen griechische Juden. „Meine Wahl sendet eine wichtige Botschaft, die Menschen haben gegen Stereotypen, Intoleranz und Antisemitismus gestimmt“, erklärt er im Garten des Rathauses.

Was es heißt, als jüdischer Kandidat anzutreten, erfuhr er während des hitzigen Wahlkampfes: Wahlweise sei ihm von politischen Gegnern vorgeworfen worden, Verbindungen zum israelischen Geheimdienst Mossad, zur israelischen Botschaft oder gleich zu beiden zu haben. Auch wenn Griechenland kein Hort des Neonazismus ist, so zeigen jüngste Umfragen, dass in der Gesellschaft ein latenter Antisemitismus existiert. Einer Umfrage der „Anti Defamation League“ zufolge vertreten 67% der Griechen eine antisemitische Einstellung, 90% glauben, dass Juden zu viel Kontrolle über das Wirtschaftsleben hätten und 70% sind der Meinung, Juden würden den Holocaust für ihre Zwecke vereinnahmen. Diese Umfragewerte machen Elisafs Wahl umso bemerkenswerter. Doch er ist sich sicher: „Sagen wir mal so, ich wurde trotz meiner Religion gewählt. Die Bürger haben sich aufgrund meiner Persönlichkeit, meines Teams und meiner Ziele für mich entschieden.“

Dabei war Ioannina schon immer ein Zentrum des jüdischen Glaubens in Griechenland. Während sich Thessaloniki erst durch die Zuwanderung nach der Reconquista auf der iberischen Halbinsel im Jahre 1492 zu einem „Jerusalem des Balkans“ entwickelte, reicht die Geschichte der griechisch sprechenden Juden, den Romanioten, mehr als 2000 Jahre zurück. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts gab es noch knapp 5000 Romanioten in Ioannina – was sie zu einer der größeren jüdischen Gemeinden in Griechenland machte. Doch die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg beendete das jüdische Leben in Ioannina nahezu komplett. Nur wenige hundert Menschen überlebten die Todeslager von Ausschwitz und Treblinka, heute umfasst die jüdische Gemeinde nur noch knapp 50 Personen.

Auch die Elisafs Biografie ist eng mit dem Holocaust verbunden. Seine Eltern flohen mit Hilfe eines Netzwerkes an Unterstützern über mehrere Stationen nach Tel Aviv, wo sie einige Jahre blieben. Erst nach Ende des Krieges kehrten sie in ihre Heimat zurück, wo sie alles andere als herzlich empfangen wurden. Viele Häuser der deportierten und geflohenen Juden seien besetzt gewesen, sodass die allermeisten sich gezwungen sahen, diese zu verkaufen und endgültig aus ihrer Heimat fortzuziehen. Heute, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, macht sich Elisaf Sorgen. Er sehe, dass es „schwierig sei für die junge Generation, die Tragödie des Holocaust zu verstehen“. Er möchte die Erinnerung daran wach halten, nicht – wie er sagt – um Trauma zu reproduzieren, sondern um sich dem „Zauber des Rechtsextremismus und ihren Predigten über Intoleranz und Rassismus“ zu widersetzen.

Der neue Bürgermeister hat viel vor für Ioannina. Er möchte seine Stadt öffnen und zum „Zentrum des westlichen Balkans“ machen – und zu einem Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt. Dabei unterstreicht er immer wieder den multikulturellen und toleranten Charakter seiner Heimat: „Wenn Sie durch die Altstadt schlendern, sehen Sie die Erinnerungen an diese Vergangenheit.“ Tatsächlich hat Ioannina eine sehr bewegte Geschichte und multikulturelle Traditionen. Spuren der byzantinischen, venezianischen und osmanischen Vergangenheit zeichnen das Stadtbild, in der Altstadt stehen Kirchen, Moscheen und Synagogen Seite an Seite. Elisaf ist stolz auf die reiche und vielseitige Geschichte seiner Stadt und möchte sie auch für die Gegenwart und Zukunft Ionninas nutzen.

Trotzdem weiß er auch, wie viele Hürden es auf dem Weg dorthin gibt. Zu den größten Herausforderungen gehört die oftmals veraltete und bürokratische Verwaltungsstruktur Griechenlands.

Elisaf propagiert eine dezentrale Struktur mit weniger Zentralstaat: „Das Jahrzehnt der Krise hat uns doch gelehrt, dass die kommunale Selbstverwaltung dem Bürger näher ist als der Zentralstaat. Wir müssen die Probleme der Bürger lösen können, ohne vorher 30 Unterschriften einzuholen.“ Viele Dienstleistungen möchte er im Sinne der Effizienzsteigerung und Kostenminderung an private Firmen vergeben. „Es gab heftige Reaktionen von der extremen Rechten bis hin zur kommunistischen Linken, als wir die Abfallversorgung der Privatwirtschaft überlassen wollten“, gesteht Elisaf ein. Die Kooperation der öffentlichen Hand mit der Privatwirtschaft ist in Griechenland über Parteigrenzen hinweg verpönt.

Elisaf möchte seine Stadt fit für die Zukunft machen – Themen wie Smart City oder E-Governance sind ebenso auf seiner Agenda wie der Ausbau von Grünanlagen und Spielplätzen. E-Governance ist für ihn nicht nur eine Möglichkeit, Probleme schneller zu lösen, sondern auch ein wichtiges Instrument, um die junge Bevölkerung für die Kommunalpolitik zu gewinnen: „Wir wollen einen Rat für junge Menschen schaffen, um ihr Interesse zu wecken und ihr Engagement zu erweitern.“

Auch wenn Elisaf bei den Kommunalwahlen als unabhängiger Kandidat angetreten ist, so fühlt er sich mit seinen Ideen und Visionen bei den Liberalen am besten aufgehoben. Wichtige Anliegen Elisafs, wie die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft oder das Eintreten für die europäische Idee, seien liberale Kernthemen. „Ich gehöre der liberalen Gruppe an, weil sie die einzige ist, die für das vereinte Europa steht“, erklärt Elisaf, der Mitglied der liberalen Fraktion im europäischen Ausschuss der Regionen (CoR) ist. Er möchte in diesem Ausschuss von den Erfahrungen der Mitglieder anderer europäischen Ländern lernen, welche Lösungsansätze in Griechenland und in seiner Heimatstadt angewendet werden können.

Sein großes Vorbild ist der ehemalige Bürgermeister des 250 Kilometer entfernten Thessaloniki, Iannis Boutaris. Während seiner Amtszeit zwischen 2011 und 2019 hatte Boutaris es geschafft, das jüdische und osmanische bzw. jungtürkische Erbe der zweitgrößten Stadt Griechenlands positiv zu vermarkten. Auch er wurde zur Zielscheibe von Nationalisten und Extremisten, doch Dank Boutaris Projekten ist Thessaloniki heute eine weltoffene und prosperierende Stadt, die Touristen aus vielen Ländern anzieht. Elisaf ist überzeugt, dass Boutaris in Thessaloniki den Weg gezeigt habe und Ioannina gut beraten sei, diesem Beispiel zu folgen. Daher hat Elisaf viele ehemalige Weggefährten von Boutaris in seinem neuem Team aufgenommen. Sie sollen Ioannina helfen, einen ähnlich positiven Weg wie Thessaloniki in den vergangenen Jahren zu gehen.

Ioannina, das in der bergigen Region Epirus im Nordwesten Griechenlands liegt, war bislang eher ein Geheimtipp unter Naturliebhabern. Doch mit Moses Elisaf, einem weltoffenen, pro-europäischen und liberal-progressiven Bürgermeister könnte sich das schnell ändern. Die Nähe zu Albanien und Nordmazedonien war bis zur Unterzeichnung des Prespa-Abkommens im Jahr 2019, das einen jahrzehntelangen Namensstreit zwischen Griechenland und Nordmazedonie beilegte, noch eine Gefahr. Heute überlegt Elisaf aus diesem Dreiländereck eine neue Euroregion mit Ioannina im Zentrum zu bilden. Elisaf könnte außerdem zum  Ansporn für weitere liberale Kommunalpolitiker werden, die sich als Alternative zu Politikern der alten Garde präsentieren wollen.

Kurz vor dem Abschied schickt Elisaf noch einen Gruß in Richtung Deutschland und lädt die Deutschen ein, seine Stadt zu besuchen: „Unsere Freunde in Deutschland werden hier eine schöne und gastfreundliche Stadt vortreffen.“

 

Aret Demirci ist Projektkoordinator bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Istanbul.

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