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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Gedenktag
Ein Tag trauriger Erinnerung

Vor 62 Jahren, am 13. August 1961, wurde mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen. Es war ein Offenbarungseid der Planwirtschaft. Und ein Verbrechen gegen die Freiheit.
Bau der Berliner Mauer

Am 13. August 1961 wurde mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen

© picture alliance / AP | STR

Abstimmung mit den Füßen! So nennt man in der Wirtschaftswissenschaft die Abwanderung und den Wegzug von Menschen, die ihrem Schicksal entfliehen, weil sie zutiefst unzufrieden sind mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen in ihrem Land. Das geschah in der DDR der Fünfzigerjahre massenhaft. Mehr als drei Millionen Einwohner Ostdeutschlands verabschiedeten sich in dieser Zeit aus ihrer alten Heimat und suchten eine neue im Westen.

Der zentrale Grund war - neben der Unterdrückung der persönlichen Freiheit - das ökonomische Versagen des Regimes. Für die im Wesentlichen gleiche Arbeit erhielten die Menschen im Westen einen viel höheren Lohn - und dies in einer konvertiblen Währung, mit der sie auch wirklich eine breite Palette von werthaltigen Konsumgütern nach eigener Präferenz und Wahl einkaufen konnten. Der "Kapitalismus" des Westens - genauer: dessen soziale Marktwirtschaft - hatte sich seit der Währungs- und Wirtschaftsreform 1948 als das viel leistungsfähigere (und natürlich freiheitlichere!) System erwiesen als die parallel etablierte sozialistische Planwirtschaft im Osten. Dagegen hatten die Menschen im Juni 1953 (vor ziemlich genau 70 Jahren!) im Osten eindrucksvoll demonstriert, aber ihr Protest war blutig niedergeschlagen worden. Hoffnungslosigkeit machte sich breit, die Welle der Abwanderung schwoll verstärkt an, und je mehr das "Wirtschaftswunder" im Westen an Fahrt gewann, desto dramatischer wurde die Schieflage im Osten, vor allem bei qualifizierten Fachkräften.

Die politische Führung der DDR unter Walter Ulbricht sah keine Alternative mehr, als die Grenzen nach innen zu schließen. Ein ungeheuerlicher Vorgang: Den Menschen wurde verboten, ihr Glück dort zu suchen, wo sie glaubten, es finden zu können. Bis heute besteht eine gewisse Neigung in der Öffentlichkeit, die Dramatik dieses Vorgangs herunterzuspielen - nach dem Motto: Was sollte die DDR-Regierung denn anderes machen, wenn sie das "Ausbluten" ihres Landes verhindern wollte? War nicht die Durchsetzung der sozialistischen Planwirtschaft gar nicht anders möglich, als durch Festhalten der Menschen im eigenen Lande hinter einem, wie es hieß, "antifaschistischen Schutzwall"? Und erwies sich diese Politik nicht auch tatsächlich als "erfolgreich" - in dem Sinne, dass sich die Lage in der DDR in den darauffolgenden sechziger und Siebzigerjahren zumindest vorübergehend stabilisierte?

Genau so argumentieren tatsächlich unverbesserliche Sozialisten, die dem verführerischen Kapitalismus im Westen die Schuld an der damaligen Abwanderung in die Schuhe schieben, auch heute noch. Dies ist ethisch völlig inakzeptabel: Wenn ein System - die Planwirtschaft - nicht aus sich heraus die Lebensbedingungen der Menschen so stark verbessert, dass sie freiwillig bleiben, dann darf niemals durch staatlichen Zwang das Grundrecht auf Freizügigkeit beseitigt werden. Der einzige gangbare Weg muss darin bestehen, das System so zu reformieren, dass es den nötigen Leistungsstand erbringt, der es konkurrenzfähig macht. Im Falle der DDR hätte dies bedeutet: Aufgeben der Planwirtschaft mit verstaatlichten Produktionsmitteln und Übergang zur Marktwirtschaft mit Privateigentum, so wie nach dem Mauerfall 1989 in Ostdeutschland sowie Mittel- und Osteuropa tatsächlich geschehen.

Insofern ist der "Systemwettbewerb" nicht irgendein abstrakter Luxus, sondern die zwingende Notwendigkeit, um den Menschen zu erlauben, ihre persönlichen Ziele zu verwirklichen. Und in dieser Hinsicht hat sich die Marktwirtschaft eben immer wieder als die bessere Alternative zur Planwirtschaft erwiesen. Dies ist auch heute noch eine überaus wichtige Lektion: Wer krampfhaft versucht, gegen den Willen der Bevölkerung planwirtschaftliche Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, wird über kurz oder lang vor dem Problem stehen, dass sich die Menschen dem Zwang entziehen.

Nach dem Bau der Mauer 1961 geschah dies in vielfältiger Weise. Es gab in großen Teilen der Gesellschaft weitreichende Ausweichreaktionen: den Rückzug ins Private, wo nur irgend möglich; die Verlagerung des größten Arbeitseifers auf die häusliche handwerkliche Tätigkeit; den Versuch, auf dunklen Umwegen an die gewünschten Güter und Materialien zu kommen - außerhalb der offiziellen planwirtschaftlichen Wege. Bei einigen führten die Missstände aber auch zu heroischen Akten der Verzweiflung - mit hochriskanten Fluchtversuchen, die manchmal glückten, aber häufig mit Verhaftung, lebensgefährlichen Verletzungen oder gar dem Tod endeten. Die Geschichte der Fluchten über die innerdeutsche Grenze - den gelungenen und den gescheiterten - ist das tief bewegende Zeugnis der Leidenschaft für die Freiheit, die Ostdeutsche in sich trugen. Und sie ist der blutige Beleg für die Unmenschlichkeit des DDR-Regimes.

Es ist deshalb so wichtig, den 13. August 1961 als Gedenktag des Mauerbaus nicht hinter anderen Erinnerungsdaten der deutschen Geschichte verschwinden zu lassen. Ähnlich wie der 17. Juni 1953, dem Tag des Volksaufstands in der DDR, bleibt der Tag des Mauerbaus ein Mahnmal für die Freiheitsliebe der Menschen und deren Unterdrückung durch ein sozialistisches Regime mit totalitären Zügen. Für liberale Demokraten ist und bleibt er ein Tag trauriger Erinnerung.