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Follow the money im "Qatargate"

Der Korruptionsskandal des EU-Parlaments legt Schwachstellen der Brüsseler Transparenzregeln und Berichtspflichten offen
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Die Anwälte der ehemaligen Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Eva Kaili, Michalis Dimitrakopoulos (Mitte rechts) und Andre Risopoulos (Mitte links), sprechen am Donnerstag vor dem Gericht in Brüssel mit den Medien

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Matthys

Die Schlinge der Vorwürfe gegen europäische Spitzenpolitiker verengt sich. Mitte Dezember kamen für ein paar Tage jeden Tag neue Meldungen ans Licht, die die einzig direktdemokratisch legitimierte Institution der Europäischen Union, das Europäische Parlament, diskreditierten. Der Flurschaden ist erheblich. Möchte die Europäische Union nicht das letzte Vertrauen Ihrer Bürger verlieren und den ohnehin schon vorhandenen Euroskeptizismus vertiefen, muss sie schnell handeln und ihre Institutionen reformieren, um dem Image einer elitären und sich selbst bereichernden Politikkaste entgegenzuwirken. Ein Blick auf die geltenden Regeln und mögliche Reformideen verrät, dass durchaus noch Luft nach oben ist.

Der liberale Premierminister Belgiens, Alexander de Croo, konstatierte in seinem ersten Pressestatement ein paar Tage nach Aufdeckung des Korruptionsskandals um die griechische Abgeordnete Eva Kaili, die wohl nur die Spitze des Eisbergs an weiteren Anschuldigen darstellen könnte, dass die „belgische Justiz das machen würde, was das Europäische Parlament nicht getan hat“. Damit legt er offen den Finger in die Wunde der unzureichenden Wachsamkeit der europäischen Volksvertretung, die trotz einem Sonderausschuss für ausländische Einflussnahme (INGE bzw. ING2), selber keine der zahlreichen Korruptionsvorfälle hat kommen sehen. Auf der anderen Seite hat De Croo leicht reden. Abgesehen von Maßnahmen wie der Einrichtung von Registern hat das Europäische Parlament keine polizeilichen Befugnisse, kann beispielsweise keine Eide abnehmen und ist daher von der Justiz des Landes, in dem es seinen Sitz hat, abhängig. Es ist bekannt, dass die Führung des Europäischen Parlaments von Anfang an mit den belgischen Ermittlungen zusammengearbeitet hat.

Korruptionsverbot ist im Code of Conduct des Europäischen Parlaments festgeschrieben

Im Verhaltenskodex des Parlaments steht geschrieben, dass EU-Parlamentarier nicht „im Interesse einer anderen juristischen oder natürlichen Person zu handeln“ haben und dem Prinzip der „Uneigennützigkeit, Integrität, Transparenz, Sorgfalt, Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit und Wahrung des guten Rufs des Parlaments“ verpflichtet sind. Zudem dürfen die Mitglieder keinen „finanziellen Nutzen [ziehen] oder eine sonstige Zuwendung“ erhalten, da sie dem „öffentlichen Interesse“ dienen. Neben diesen moralischen Grundprinzipien bestehen für die Abgeordneten auch Berichtspflichten, wenn Sie einen Lobbyvertreter oder Lobbyvertreterin treffen, allerdings nur in bestimmten Konstellationen: Lobbytreffen müssen lediglich auf der Parlamentswebseite aufgeführt werden, wenn der oder die jeweilige Abgeordnete als Berichterstatter oder Schattenberichterstatter oder als Ausschussvorsitzender für ein bestimmtes politisches Dossier zuständig ist. Ausgenommen sind davon also alle anderen Abgeordneten und eben auch ihre manchmal fast noch entscheidenderen Mitarbeiterstäbe, die die Einzelpositionen im Rahmen der innerparlamentarischen Verhandlungen im Detail vorbereiten. Ebenfalls ausgenommen von diesen Berichtspflichten ist die Führungsebene des Parlaments, also Präsidentin, Vizepräsidenten oder Fraktionsvorsitzende. Alle anderen Mitglieder des Parlaments können Lobbytreffen zwar veröffentlichen, aber eben auf freiwilliger Basis. Abgeordnete dürfen auch bezahlten Nebentätigkeiten nachgehen, wenn diese keinen Interessenskonflikt begründen und sie ihre Einkünfte publik machen.

Schätzungsweise arbeiten zwischen 25.000 bis 30.000 Lobbyisten in Brüssel. Im sogenannten Transparenzregister der EU, das 2011 im Rahmen eines Abkommens zwischen Parlament und Kommission eingerichtet wurde und mit einem eigenen Sekretariat ausgestattet ist, sind etwa 12.000 Organisationen gemeldet. Diese haben laut Angaben von Tranparency international ein jährliches Lobby-Budget von 1.8 Milliarden Euro umgesetzt. Der Ministerrat ist seit Ende 2020 auch Teil des Registers und hatte seit 2014 den Beobachterstatus inne. Ebenfalls laut Transparency International haben zwischen Juni 2019 und Juli 2022 etwa 28.000 Treffen zwischen europäischen Abgeordneten und Lobbyisten stattgefunden, wobei nur etwa die Hälfte im Transparenzregister geführt wurden. Dabei führten liberale und grüne Europaabgeordnete am meisten ihrer Lobbyaktivitäten auf.  Erst im April 2021 hatte das Europäische Parlament noch eine Resolution beschlossen, die sich für stärkere Durchsetzung der Transparenzvorschriften ausspricht und auch den veränderten Bedingungen der Corona-Pandemie als indirektes Lobbying zunahm, Rechnung trägt. Dabei monierte das Parlament etwa, dass die ständigen Vertretungen der Mitgliedstaaten bei der EU bislang nur freiwillig ihre Aktivitäten offenlegen müssen.

Es ist eine teuflisch schwierige Angelegenheit. Parlamentarier sind für jede Art von Einwirkung offen, und so sollte es auch sein, zum Beispiel von Bürgern, Organisationen und Wirtschaftsakteuren in ihren Wahlkreisen und von ihren eigenen Parteien. Aber auch von allen anderen, einschließlich Familienmitgliedern, Freunden, ehemaligen Kollegen und so weiter. Es wäre überbürokratisch, dies alles in Registern zu erfassen. Letztendlich müssen sie selbstständig und guten Gewissens ihre eigenen Schlüsse aus einer Vielzahl von Informationen und Meinungen ziehen. Auf der anderen Seite gibt es die offiziellen Lobbyisten in Brüssel, die natürlich registriert werden sollten, unabhängig davon, ob sie wirtschaftliche Interessen vertreten oder themenbezogen sind, wie NRO und Gewerkschaften. Und es steht außer Zweifel, dass die Zahlung von Geld, das Versprechen eines künftigen Arbeitsplatzes oder auch VIP-Eintrittskarten für das Wimbledon-Finale oder ein Formel-1-Rennen weit über das hinausgehen, was akzeptabel ist.

Untersuchungs- oder Sonderausschuss, Durchsetzbarkeit und Ethikbehörde

Das Europäische Parlament ist eines der transparentesten Parlamente in Europa, aber seine Regeln für die Registrierung haben sich auf die offiziellen Lobbyisten konzentriert - was logisch ist, da sie den größten Teil der Lobbyarbeit leisten. Die Regeln galten bisher nicht für Drittländer, und dieses Schlupfloch wird nun geschlossen. Tatsächlich hat sich das Parlament mit großer Mehrheit - nur zwei Abgeordnete stimmten dagegen - sofort auf ein Paket mit viel strengeren Regeln für seine Mitglieder und Mitarbeiterschaft geeinigt, das die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola in konkrete Vorschläge umsetzen wird. Der interinstitutionelle unabhängige Ethikrat, den die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erneut auf die Tagesordnung gesetzt hat, wurde vom Parlament bereits im September 2021 gefordert - allerdings muss er von der Europäischen Kommission vorgeschlagen werden und das ist noch nicht geschehen.

Aktuell aufgrund des Skandals im Europa-Parlament wird zudem an verschiedenen Stellen gefordert, einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Der FDP-Politiker im EU Innenausschuss, Moritz Körner, merkte dazu im Deutschlandfunk an, dass die rechtlichen Möglichkeiten des EU-Parlaments allerdings geringer ausgeprägt sind, als dies beispielsweise im Bundestag der Fall ist, wo sich etwa Zeugen strafbar machen, wenn sie Falschaussagen tätigen. Nun beschloss das Parlament am 15. Dezember vielmehr, einen Sonderausschuss einzurichten, durch den die geltenden Lobby-Bestimmungen evaluiert werden sollen. Zudem sollen Abgeordnete künftig ihr Vermögen offenlegen und eine Karenzzeit einhalten, bevor sie selber Lobbyist werden können.

Auch wenn der Ruf nach immer neueren Gremien und Agenturen der EU nicht zu ihrer schlanken Governance beitragen dürfte, steht fest, dass neben den existierenden Regeln das aktuell größte Problem die Durchsetzbarkeit der Regeln ist. Die Regeln zudem auf alle Mitarbeiter des Parlaments auszuweiten, ist ein logischer und notwendiger nächster Schritt. Aber auch für die Kommission stellt sich das Problem der Durchsetzbarkeit, da bislang keine Aufsichtsbehörde die Forderung, dass Kommissare und ihre leitenden Beamten alle ihre Lobbytreffen offen legen müssen, kontrolliert. Das Europäische Parlament hat nun eine Rolle für die Europäische Staatsanwaltschaft (EPPO), die EU-Agentur für die Zusammenarbeit in Strafsachen (Eurojust), Europol und das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) vorgeschlagen.

Leider ist auch klar, dass dieser spezielle Fall nicht durch irgendwelche Verfahrensregeln oder Transparenz- oder Lobbyregistervorschriften hätte verhindert werden können. Selbst die besten Verhaltensregeln helfen nicht, wenn jemand kriminelle Absicht zeigt, korrumpiert wird, gegen Strafgesetze verstößt und einer kriminellen Organisation angehört. Hier kann nur das Strafrecht helfen.

Zwar ist die griechische sozialistische Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Eva Kaili, die vom Europäischen Parlament mit nur einer Gegenstimme sofort aus allen ihren Funktionen entlassen wurde, zum öffentlichen Gesicht des Skandals geworden, der Drahtzieher der kriminellen Organisation ist ein italienischer ehemaliger sozialistischer Europaabgeordneter, Pier Antonio Panzeri, der zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter verhaftet wurde; zu seinen Komplizen gehören weitere Italiener, die mit der sozialistischen Fraktion verbunden sind, darunter der Partner von Eva Kaili, Francesco Giorgi. Die belgischen Behörden geben keine öffentlichen Informationen heraus, aber belgischen und italienischen Medienberichten zufolge hat Giorgi den Behörden gesagt, dass er Teil der Gruppe Panzeris gewesen sei, die die Weiterleitung von Schmiergeldern aus Katar und Marokko an Parlamentarier im Austausch für Einfluss auf die EU-Politik erleichtert habe. Kaili behauptet, dass sie unschuldig ist und von Giorgi verraten wurde. Außer Kaili wird noch gegen einen weiteren Abgeordneten ermittelt, den wallonischen Sozialisten Marc Tarabella, der jedoch nicht verhaftet wurde. In dieser Woche beschloss der für den Fall zuständige belgische Untersuchungsrichter Michel Claise, der für seinen Kampf gegen Korruption bekannt ist, die Untersuchungshaft für die Hauptverdächtigen Giorgi und Panzeri um einen Monat zu verlängern und am Donnerstagabend auch für Kaili.

Panzeri‘s Nichtregierungsorganisation "Fight Impunity" soll auch fünfstellige Beträge an den italienischen Gewerkschafter Luca Visentini überwiesen haben, der sich um den Vorsitz des internationalen Gewerkschaftsbundes ITUC bewarb. Vor der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft in Katar wandte sich die Menschenrechtsgruppe FairSquare in einem Schreiben an den ITUC, um ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck zu bringen, dass der Verband "es versäumt hat, sich gegen schwerwiegende Missstände durch die katarischen Behörden auszusprechen". Visentini wurde mittlerweile vom ITUC suspendiert. Auch mindestens ein (ehemaliger) EU-Kommissar, Dimitris Avramopoulos, erhielt Geld als Entschädigung für seine Tätigkeit im Vorstand der Organisation. Sein Engagement endete im März dieses Jahres. Panzeri war bestens vernetzt, und mehrere prominente Persönlichkeiten waren Ehrenvorstandsmitglieder seiner Organisation. Sie alle traten zurück.

Die sozialdemokratische Fraktion ist offensichtlich besonders peinlich berührt von diesem Skandal. Kaili wurde sofort aus der Fraktion ausgeschlossen, und Tarabella ließ sich während der Ermittlungen suspendieren. Eine Reihe einflussreicher Sozialisten, allesamt Italiener, traten von ihren Ämtern zurück, auch weil gegen einige ihrer Mitarbeiter ermittelt wurde. Das Gerichtsverfahren wird zeigen, inwieweit andere Mitglieder des Europäischen Parlaments und andere Fraktionen involviert sind. Einerseits scheint es unwahrscheinlich, dass sich die beiden Länder ausschließlich auf einen oder zwei nicht sehr einflussreiche Politiker konzentriert haben, andererseits sind bisher keine weiteren Namen in der Gerüchteküche aufgetaucht.

Was gibt es zu gewinnen

Die große Frage ist, was Katar und Marokko sich davon versprochen haben. Marokko hüllt sich in Schweigen. Katar bestreitet vehement jede Beteiligung. Dies erinnert an den Skandal in der FIFA nach der Vergabe der Fußballweltmeisterschaft an Katar. Gegen mehrere (inzwischen ehemalige) FIFA-Vorstandsmitglieder wird wegen Korruption ermittelt, aber bisher sind keine Beweise dafür aufgetaucht, dass tatsächlich der Staat Katar selbst an einer Bestechung beteiligt war.

Wenn Katar involviert war, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Gelder auf spektakuläre Weise verschwendet wurden. Es gab eine Situation, in der Eva Kaili versuchte, eine (nicht-legislative und nicht-bindende) Resolution des Europäischen Parlaments in Bezug auf die Menschenrechtssituation in Katar positiver zu gestalten, und das wurde abgelehnt. Der Vorschlag der Europäischen Kommission, Kataris den visafreien Zugang zur Europäischen Union zu ermöglichen, wurde diesen Monat zur erneuten Prüfung an den Parlamentsausschuss zurückgeschickt.

Das Europäische Parlament zu bestechen ist ohnehin äußerst schwierig, da es mehr als 700 Mitglieder hat. Und schon die Bestechung von Abgeordneten, die Einfluss auf einen Gesetzesvorschlag haben, ist schwierig, weil die Regeln, denen sie unterliegen, viel strenger sind als für andere Abgeordnete und das Risiko, entdeckt zu werden, enorm ist. Hinzu kommt, dass das Parlament keine eigenen Vorschläge machen kann. Die Vorschläge müssen von der Europäischen Kommission kommen, die also zuerst bestochen werden müsste. Und nach dem Europäischen Parlament haben die europäischen Regierungen als Mitgesetzgeber im Europäischen Rat ein gleichberechtigtes Mitspracherecht. Kurz gesagt, der etwas verworrene europäische Entscheidungsfindungsprozess bietet einen hervorragenden Schutz vor Korruption. Das soll nicht heißen, dass es unmöglich ist, aber es erfordert eine unglaublich intelligente Kampagne, um sich Einfluss in der EU zu erkaufen, und es besteht ein großes Risiko, dass das Komplott aufgedeckt wird. Genau das ist im Fall Katar-Marokko geschehen.

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass dieser Fall schnellstens aufgeklärt wird und dass mögliche andere Fälle ans Licht kommen. Denn Korruption ist ein großes Problem in der Europäischen Union, insbesondere wenn es um die Verwendung von europäischen Steuergeldern im Rahmen von Strukturfonds, Infrastrukturprojekten usw. geht. Ungarn wird bereits vom Europäischen Parlament zur Rechenschaft gezogen (der Fall Kaili hat Victor Orban etwas Aufheiterung verschafft), und es ist unwahrscheinlich, dass Ungarn der größte Übeltäter ist. Die Institutionen in Brüssel müssen ihr eigenes Haus in Ordnung bringen, wenn sie mit Autorität über Korruptionsfälle bei der Verwendung von EU-Geldern sprechen wollen. Das Europäische Parlament, aber auch die Europäische Kommission und die Vertretungen der Mitgliedstaaten stehen jetzt unter dem Mikroskop und müssen diese Gelegenheit nutzen.

Jeanette Süß ist European Affairs Manager im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Jules Maaten ist Regionalbüroleiter im Brüsseler Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.