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Frankreich
Bilanz der französischen Ratspräsidentschaft in der europäischen Migrationspolitik

Jeanette Süß im Gespräch mit MdB Dr. Ann-Veruschka Jurisch
Dr. Ann-Veruschka Jurisch Frankreich Flagge
© Canva/Deutscher Bundestag

Die französische Ratspräsidentschaft des ersten Halbjahres 2022 ist zu Ende gegangen. FNF Europe widmet sich verschiedenen Aspekten innerhalb der Präsidentschaft mit Interviews, Podcasts und Veranstaltungen. Eines der Kernziele der französischen Ratspräsidentschaft war es, mehr Bewegung in die europäische Migrationspolitik zu bringen. Bis auf die Verabschiedung der Reform der Blauen Karte EU noch 2021 und dem Inkrafttreten der Europäischen Asylagentur EUAA, die künftig das Unterstützungsbüro EASO ersetzt, ist allerdings bis zuletzt nicht viel passiert in der europäischen Migrationspolitik, obwohl es eigentlich an Vorschlägen nicht mangelte. Bestehende Bemühungen seit 2015 wurden immer wieder durch die Verweigerungshaltung von Ungarn und Polen konterkariert. Nun scheint Frankreich im Rat der EU (Verhandlungen der ständigen Vertreter der jeweiligen Ministerräte) ein Erfolg gelungen zu sein. European Affairs Manager Jeanette Süß spricht mit der Bundestagsabgeordneten Dr. Ann-Veruschka Jurisch, die Mitglied im EU-Ausschuss ist und für die FDP als Berichterstatterin den Themenkomplex Migration und Asyl verfolgt.

Im Gegensatz zum Kommissionsvorschlag des Paktes für Migration und Asyl von September 2020, der noch eine verpflichtende Solidarität und Rückführungspartnerschaften vorher hat sich der Rat „Justiz und Inneres“ am 9./20. Juni auf einen „freiwilligen Solidaritätsmechanismus“ geeinigt. Mit ihm sollen die Mittelmeerländer im Umgang mit Asylsuchenden unterstützt werden. Allerdings beteiligen sich bei weiten nicht alle Mitgliedstaaten daran (18 von 27 sowie 3 assoziierte Staaten), wie die Einigung vom 22. Juni zeigt. Ist das nun endlich der Weg aus der jahrelangen Reformsackgasse?

Das sehr schnelle Aktivieren der so genannten EU-Massenzustrom-Richtlinie nach Russlands Angriff auf die Ukraine sehe ich als einen Erfolg, der die Krisenfestigkeit der EU untermauert. Doch das darf uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der zweite Teil der Richtlinie – der Solidaritätsmechanismus, also die faire Verteilung von Geflüchteten zwischen den Mitgliedsstaaten – nicht aktiviert wurde.

Der Weg aus der Reformsackgasse ist der Beschluss des freiwilligen Solidaritätsmechanismus also nicht, aber es ist ein erster Schritt in der Umsetzung des neuen europäischen Migrations- und Asylpakets. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist Anfang Juni noch davon ausgegangen, dass sich lediglich 12 bis 13 Länder am Mechanismus beteiligen würden - dass nun doch 18 Mitgliedstaaten an Board sind, ist schon ein kleiner Erfolg, auch wenn es natürlich mehr als wünschenswert wäre, wenn hier alle Mitgliedsstaaten gemeinsam agieren würden. Sehr schade ist, dass einige Mitgliedstaaten statt Aufnahmekapazitäten "nur" finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Dennoch ist man in dieser Frage nun etwas vorangekommen und sendet damit auch ein Zeichen an die Mittelmeerländer, dass man sie mit dieser Last nicht alleine lässt. Wir haben aber noch einen weiten Weg vor uns und sind von einer echten gemeinsamen Migrations- und Einwanderungspolitik weit entfernt. Ich halte die informelle Regelung des Rates, solche Entscheidungen nur einstimmig zu treffen nicht für sinnvoll. Die Möglichkeit für Mehrheitsentscheidungen ist vertraglich gegeben, hierüber sollte verstärkt diskutiert werden.

Die Einigung im Rat stellt den Grundstein für die Aufnahme der Verhandlungen mit Parlament und Kommission dar. Tschechien wird die Verhandlungen vom Rat also weiter vorantreiben müssen, für wie reformwillig halten Sie das Land, das sich als einziges Land der Visegrád-Staaten zu dem freiwilligen Verteilmechanismus bekannt hat?

Sicherlich sind wir und Tschechien in der Migrationspolitik oft weit von einander entfernt. Ich denke aber, dass die Zustimmung zum freiwilligen Verteilmechanismus gezeigt hat, dass ein Reformwille besteht. Das Interesse daran kommt natürlich auch durch die schreckliche Situation in der Ukraine. Ich bin überzeugt davon, dass Tschechien als Teil der Trio-Präsidentschaft mit Frankreich und Schweden sich an die gesteckten Ziele halten wird.  Eines der Ziele der drei Staaten ist die Stärkung der Gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik. Frankreich hat hier den Aufschlag gemacht und Tschechien wird dies sicherlich weiter fortsetzen - wenn auch nicht unbedingt mit derselben Motivation.

Ein weiterer Vorschlagskomplex, der programmatisch schon im Dezember 2021 von Emmanuel Macron bei der Vorstellung der französischen Prioritäten der Ratspräsidentschaft im Elysée-Palast angekündigt wurde betrifft die politische Steuerung des Schengen-Raums mit einem Schengen-Rat. Was sind hier die aktuellen Überlegungen, wie der Schengener Grenzkodex krisensicherer gemacht werden soll?

Der von der französischen Ratspräsidentschaft vorgeschlagene Schengen-Rat soll als zentrales politisches Gremium für den Austausch über aktuelle Reformen innerhalb des Schengen-Raums und den strategisch operativen Bedürfnissen dieses Raums der Freiheit dienen. Die erste Tagung des Schengen-Rates hat auch bereits stattgefunden, auf dem das von der EU-Kommission vorgeschlagene Barometer erörtert wurde. Dieses wird dem Schengen-Rat als Grundlage für die Evaluierung aktueller und strategischer Herausforderungen des Schengen-Raums dienen. Herausforderungen des Schengen-Raumes sind etwa die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit ebenso wie der äußere und der innere Schutz dieses Raumes, der etwa während der Corona-Pandemie massiv angegriffen wurde.

Neben dem freiwilligen Solidaritätsmechanismus haben sich die für Migration zuständigen Minister auch auf zwei Gesetzesvorhaben zum Schutz der europäischen Außengrenzen geeinigt. Zum Einen ein neues Verfahren an den EU-Außengrenzen zur Identifikation Schutzsuchender („Screening“) sowie Reform der Eurodac-Datenbank zur Abnahme von Fingerabdrücken. Wie schätzen Sie diese neuen Reformschritte ein?

Eine der maßgeblichen Errungenschaften der Europäischen Einigung ist die Schaffung eines umfangreichen europäischen Raumes der Freiheit, der insbesondere die Mobilität von Menschen innerhalb dieses Freiheitsraums, namentlich des Schengen-Raums ermöglicht. Mir als Liberaler ist hier klar, dass Freiheit und Sicherheit hier in gewissem Maße Hand in Hand gehen und gehen müssen. Dies bedeutet, dass wir durchaus ein Interesse haben, so schnell wie möglich zu wissen, wer sich an unseren europäischen Außengrenzen aufhält und über unsere diversen Einreisemöglichkeiten in die EU einreisen möchte. Neben einer schnellen Identitätsfeststellung ist aber zu erhoffen, dass für die Migrantinnen und Migranten gleichzeitig schnellstmöglich das richtige Verfahren eingeleitet wird oder auch ärztliche Maßnahmen ohne Verzögerung zugunsten des Einreisewilligen ergriffen werden können.

Hier ist natürlich unumstößlich - und das ist mir persönlich sehr wichtig -, dass der Schutz der Menschenrechte derjenigen Personen, die Schutz und Aufenthalt innerhalb Europas begehren, jederzeit gewährleistet wird. Dafür müssen die handelnden Beamten gut geschult und sensibilisiert sein. Gleichzeitig bedarf es hier einer Überprüfung der Sceening-Regelung selbst, dass in dieser systematisch der Schutz der Menschenrechte gewährt ist. Es darf in keinem Fall zu illegalen Push-Backs kommen und die Etablierung prekärer oder gar lagerähnlicher Zustände an den Außengrenzen bzw. den Transitzonen muss unbedingt verhindert werden.

Die Reform der Eurodac-Verordnung, welche es erlaubt, über Fingerabdrücke von Migrantinnen und Migranten nicht nur deren Identität zentral abzuspeichern und damit den Sicherheitsbehörden verfügbar zu machen, sondern insbesondere auch erlaubt, die Bewegung von Menschen nachzuvollziehen, halte ich in diesem Sinne für sinnvoll. Die Liberalen haben sich mit ihren Koalitionspartnern im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass Ziel sein muss, Sekundärmigration auf dem Territorium der EU zu verringern. Dazu kann die Aufnahme biometrischer Fingerabdrücke insoweit unterstützen, als hier ein Missbrauch der Freizügigkeit innerhalb der EU festgestellt und unterbunden werden kann.

Krisenmomente gelten ja oft als Chance, um in der EU integrationspolitisch weiter voran zu kommen. Mit dem Krieg in der Ukraine hat die EU zum ersten Mal und sehr schnell nach dem russischen Angriff am 24. Februar die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie verabschiedet. Als vorübergehender Schutz gedacht ist sie ein Notfallmechanismus, der im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen angewandt werden kann, um jenen Menschen, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, sofort und kollektiv Schutz zu gewähren. Warum wurde die Richtlinie nicht schon in der Krisensituation 2015 angewandt? Und die alles entscheidende Frage: was geschieht nach Ablauf der 3-Jahres-Frist mit den geflüchteten Ukrainern und Ukrainerinnen, sollte der Krieg andauern?

Die EU-Innenminister haben hier das richtige getan und in Anbetracht der Tausenden von Geflüchteten aus der Ukraine, schnelle Verfahren und eine schnelle Ankunft in den europäischen Gastländern sichergestellt. Die Massenzustrom-Richtlinie stammt aus dem Jahr 2001 und wurde als Reaktion auf den Jugoslawien-Krieg erarbeitet. Dass diese Richtlinie nicht schon nach der Erarbeitung 2001 eingesetzt wurde, hat vielfältige Gründe. Ein Grund ist sicher der Vorbehalt einiger Staaten, insbesondere Polen und Ungarn, gegen die Integration der zu früheren Zeiten in Europa angekommenen Geflüchteten - hier konnten (und wollten) sich die Staats- und Regierungschefs schlicht nicht darauf einigen, schnelle und einfache Verfahren anzubieten. Dass wir die Richtlinie nicht vorher angewendet haben, führt nun zu der durchaus misslichen Situation, dass wir Personen, die sich auf europäischem Territorium befinden, unterschiedlich behandelt haben und behandeln, auch wenn es hier „nur“ um die Schnelligkeit und Einfachheit des Verfahrens geht. Materiell-rechtlich gibt es hier keinen Unterschied.

Die benannten Vorbehalte gegen die Integration Geflüchteter aus bestimmten Kulturkreisen ist leider der Knackpunkt, wieso wir in der gemeinsamem Migrations- und Flüchtlingspolitik nicht weiter kommen. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, dass wir in der Einwanderungspolitik nach den EU-Verträgen keine Einstimmigkeitspflicht bei Abstimmungen haben – lediglich der Usus hier aber die Einstimmigkeit im Rat ist. Dies ist die Blockade, in der wir stecken.

Gleichwohl ist nicht zu unterschätzen, dass wir es mit ganz neuen Dimensionen des Zustroms zu tun haben. Allein in Polen halten sich aktuell bald vier Millionen geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer auf. Diese Zahlen sind eine immense Herausforderung für jede Verwaltung und jedes Asylsystem und ihnen ist nur Herr zu werden, wenn Regelungen vereinfacht und Verfahren pauschal verkürzt werden.

Sollte der Krieg in der Ukraine auch nach Ablauf der Frist von drei Jahren weiter andauern - was wir uns kaum vorstellen mögen -, so wird sich zeigen müssen, wie damit umzugehen ist. Auf EU-Ebene müsste im selben Verfahren wie im März 2022 eine Verlängerung der Regelung beschlossen werden. Für die jetzt bei uns eingewanderten Ukrainerinnen und Ukrainer wird auf nationaler Ebene entscheidend sein, dass sie nach drei Jahren einfach und unproblematisch weiter Zugang zu unserem Arbeitsmarkt haben und hier, wo sie sich beheimatet und integriert fühlen, auch bleiben können. Auch deshalb müssen wir jetzt bei der Ausgestaltung des Punktesystems Tempo machen.

So wichtig das Management von Geflüchteten ist, muss die EU auch der enormen Nachfrage an Arbeitskräften nachkommen. Droht die Einwanderungspolitik und die Förderung von legalen Migrationskanälen unter den Teppich gekehrt zu werden? Z.B. enthielt der Vorschlag der EU-Kommission von 2020 noch die Idee eines EU-weiten Talentpools, was ist aus der Initiative geworden?

Die EU-Kommission möchte nach eigenen Plänen Mitte des Jahres 2023 einen Vorschlag zur Einführung eines Talentpools machen. Das begrüßen wir sehr, denn die FDP fordert auf europäischer Ebene die Einführung eines solchen Talentpools sehr eindringlich. Dieser ist ein wichtiges Hilfsmittel zur Förderung der Attraktivität der Europäischen Union und natürlich auch Deutschlands als Gastland für Arbeitskräfte. Ein Talentpool bietet eine Vereinfachung der Kontaktaufnahme und des Verbindungsaufbaus zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Das zu erhoffende Ergebnis ist, dass sich beide Seiten schnell treffen können, dass das Potential von Drittstaatsangehörigen für den deutschen und europäischen Arbeitsmarkt sichtbar wird und gleichzeitig auch der Drittstaatsangehörige die Attraktivität und Pluralität von Angeboten und Arbeitgebern der deutschen Wirtschaft wahrnehmen kann.

Die Umsetzung der europäischen Pläne wird auf Grund der bereits erwähnten langwierigen Weiterentwicklung der Gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik ihre Zeit benötigen, weshalb wir als Bundestagsfraktion der Freien Demokraten versuchen wollen, in der Frage voranzuschreiten und ein Punktesystem zur erleichterten Einreise von Arbeitskräften zu etablieren. Dieses muss auf eine Weise konzipiert sein, dass es sich in den dann auf EU-Ebene entstehenden Talentpool einfügen beziehungsweise in diesem aufgehen kann.

Die EU hat gleichzeitig angekündigt, ein Talentpool-Pilotprojekt zu starten, welches in einem wesentlich kürzeren Zeithorizont Perspektiven für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen schaffen soll und hier, auch als Maßnahme der Integration und als Zeichen unseres Europäischen Willkommenheißens, Personen in angemessene Arbeitsverhältnisse zu bringen, um ihnen die Möglichkeit eines selbstbestimmten und adäquaten Lebens in Europa zu ermöglichen. Auch dieses Vorhaben werden wir sehr genau beobachten. Ich persönlich freue mich, dass hier für die vom Krieg betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainer versucht wird, möglichst schnell und umfassend Perspektiven zu eröffnen. 

 

Jeanette Süß: Frau Dr. Jurisch, vielen Dank für das Gespräch!