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China
Ernährungssicherheit: Keine Krisenstimmung bei Chinas Netizens

Hitze in China
© picture alliance / NurPhoto | CFOTO

Was ist passiert?

Ernährungssicherheit ist seit dem Frühsommer regelmäßig Titelthema in den parteistaatlichen Medien gewesen. Dies ist nicht verwunderlich: Extreme Wetterbedingungen wie Hitze und Überschwemmungen (u.a. in der wichtigen Getreideanbau-Provinz Henan) haben China in diesem Jahr ungewöhnlich früh heimgesucht.

Auch geopolitische Spannungen, Umwandlung von Agrarland in Waldgebiete zum Klimaschutz oder die Erschließung von Bauland als Einnahmequelle für die chronisch überschuldeten lokalen Regierungen tragen ebenfalls zur Nahrungsmittelknappheit bei. Parteistaatliche Medien betonten dennoch in ihren Berichten, dass China trotz einer seit fünf Jahren erstmals gesunkenen Sommerernte nicht in einer Nahrungsmittelkrise steckt.

Ernährungssicherheit ist eine Top-Priorität der Kommunistischen Partei Chinas (KPC). Das „Erste Dokument des Zentralkomitees [der Kommunistischen Partei Chinas]“ (中央一号文件) des Jahres, welches sich traditionell immer den Themen Landwirtschaft und Agrarpolitik widmet, stellte die Sicherstellung der Versorgung in den Fokus. So sollen zum Beispiel bereits angelaufene administrative Maßnahmen zur Rückumwandlung von Landflächen für den Getreideanbau durch das aktuell im Erstentwurf vorliegende „Gesetz zur Ernährungssicherheit“ (粮食安全保障法草案) zentralstaatlichen Rückenwind erhalten.

Die Volksrepublik China hat sich zudem das Ziel gesetzt, eine „landwirtschaftliche Supermacht“ (农业强国) zu werden. Dies hat auch Konsequenzen für andere Länder: Als weltweit größter Exporteur von Phosphatdünger drosselt die chinesische Regierung bereits seit September 2021 die Ausfuhren ins Ausland, was weltweit zu Preisanstiegen führte. Beijing importiert vermehrt Getreide aus anderen Ländern – allein die Importe aus Russland stiegen 2022 um 40 Prozent auf 7 Mrd. US-Dollar, während Moskau seine Ausfuhren in andere Länder schon vor Kriegsbeginn stark beschränkte.

Für uns ist dies ein wichtiger Anlass zu fragen, wie das Thema Ernährungssicherheit in China im Internet diskutiert wird.

Für diese Analyse haben wir unter dem Suchwort „Ernährungssicherheit in China“ (中国粮食安全) im Zeitraum von 2020 bis 2023 auf den drei Videoplattformen Kuaishou, Douyin und Bilibili die ersten 30 algorithmisch angezeigten Videos ausgewertet.

Was sagen Chinas Netzbürger:innen?

Video-Plattformen in China

Kuaishou (快手)
Gegründet: 2011, Monthly Active Users (MAU): 480 Mio.
Kuaishou (快手, wörtlich „schnelle Hand“) ist derzeit die zweitgrößte Kurzvideo-Plattform in China. Mit ihrem Slogan „Umarmung jeglichen Lebens“ findet sie enorme Resonanz, weil sie auch wenig gebildeten Menschen eine Plattform bietet. Im Vergleich zu Bilibili und Douyin sind die Nutzer:innen von Kuaishou etwas älter (über 25 Jahre) und wohnen eher in kleineren Städten (meist zwischen 1-5 Mio. Einwohnern) oder in ländlichen Gebieten. Kuaishou wurde ebenso wie Douyin vom parteistaatlichen TV-Sender CCTV für Berichterstattung über Großereignisse wie der Gala zum chinesischen Neujahrsfest als Medienpartner rekrutiert.

Douyin(抖音)
Gegründet: 2012, Monthly Active Users (MAU): 759 Mio.
Douyin (Name der in China entwickelten App, die als Tiktok auf den internationalen Markt kam) gilt als neu, hip und musikalisch, weshalb viele in China bekannte Stars und Live-Streamer:innen die Plattform nutzen. Die Algorith- men der Firma Bytedance gelten als sehr gut: angezeigte Inhalte werden auf die Vorlieben der Nutzer:innen hin optimiert, um eine hohe Kundenbindung zu erzielen. Auch offizielle Parteimedien nutzen die Plattform, um ihre Erzählweisen dort zu platzieren.

Bilibili (auch B站/ B Station)
Gegründet: 2009, Monthly Active Users (MAU): 326 Mio.
Nach Einschätzung von Bilibili-CEO Chen Rui sind die Hauptnutzer der Video-Plattform Millennials und Angehörige der „Generation Z“ (geboren ab ca. 1990). Diese Altersgruppen sind seiner Ansicht nach geprägt durch „kulturelles Selbstvertrauen, moralische Selbstdisziplin und eine gute Bildung.“ Der Reiz von Bilibili liegt u.a. darin, dass Nutzer:innnen beim Anschauen eines Videos die Kommentare anderer beim ersten Streaming sehen können. Diese fliegen wie Kugeln ins Bild und werden deshalb Bullet-Kommentare (弹幕) genannt.

Nahrungsmittelkrise

Die meisten Kommentare auf den Video-Plattformen sehen keine Anzeichen einer Nahrungsmittelkrise – was durchaus mitunter wie eine Art Selbstberuhigung klingt:

„Es gibt kein großes Problem mit der Ernährungssicherheit in unserem Land, aber das nur gerade so. Internationale und westliche feindliche Kräfte versuchen ständig, uns zu vernichten. Unser Land hat ein strenges Auge auf die strategische Lebensmittelversorgung. Aufgrund des Russland-Ukraine-Konflikts herrscht in mehr als 20 Ländern Nahrungsmittelknappheit, aber China hat kein großes Problem.“
Douyin-Video mit dem Titel „Ernährungssicherheit: Ein Krieg, den wir uns nicht leisten können, zu verlieren […] @Zhu Shao Ping redet über Wirtschaft“, 15.03.2023.

Ein anderer Nutzer postet:

„Hortet China Lebensmittel auf den internationalen Märkten? Antwort des Außenministeriums (Wang Wenbin): ‚Kein Bedarf! Die chinesische Regierung ist absolut in der Lage, das chinesische Volk zu ernähren und muss kein Getreide auf dem internationalen Markt kaufen.‘”
Kuaishou-Video mit dem Titel „Ernährungssicherheit #Bitte glauben Sie an die Stärke des Vaterlandes,“ 2022.

Stimmen, die doch von einer existenziellen Krise ausgehen, führen unterschiedliche Gründe an.

Interne Gründe: Regierungsversagen und Politikprioritäten

"Chinas Nahrungsmittelproblem liegt in der organisierten Verantwortungslo- sigkeit. Ernährungssicherheit ist nicht nur eine Frage der Menge, sondern auch eine der Qualität.”
Bilibili-Video mit dem Titel „Wen Tiejun: Es ist zu schrecklich, dass niemand für die Ernährungssicherheit verantwortlich ist“, 08.04.2023.

Korruption wird deutlich angesprochen:

„Getreide sind nicht sicher, weil die Nahrungsmittel-Korruption die nationale Ernährungssicherheit gefährdet.“
Douyin-Video mit dem Titel „Vorschlag des Delegierten: Getreidespeicher (Nahrungsmittelreserven) genau im Auge behalten, um Ernährungssicherheit zu gewährleisten“, 03.07.2023.

Eine Verkettung von Gründen sieht ein anderer Nutzer:

„China hat inhärente strukturelle Probleme wie Umwandlung von Ackerland in Wälder, der Abwanderung und der Überalterung der Landbevölkerung sowie das Brachliegen von Ackerland. Langfristig gesehen bleibt die Situation angespannt und der Kampf um die Verteidigung der Nahrungsmittelversorgung wird noch lange andauern.“
Kuaishou-Video mit dem Titel „Festhalten an Chinas Reisschüssel und Bewachen der Getreidespeicher des Landes. Warum konnten die internationalen Getreide- händler alles niederschlagen, aber nicht China?”, Mai 2023.

Externe Gründe: Angebliche US-Verschwörung und Russlands Krieg in der Ukraine

"Die zahlreichen minderwertigen Menschen in den Entwicklungsländern hindern die USA daran, ausreichend hochwertige und günstige Rohstoffe zu erhalten. Wie können sie im Namen der Gerechtigkeit ehrenvoll und ohne Spuren und offen beseitigt werden? Die Amerikaner haben eine gute Methode gefunden: Sie lassen ihnen nichts zu essen.“

[Anmerkung der Redaktion: Dies ist eine originalgetreue Übersetzung. Der Autor bezieht sich auf ein angebliches US-Geheimdokument.]
Bilibili-Video mit dem Titel „Der Tod von Getreide und Öl: Die vier großen Getreidehändler leeren China, der 100-jährige Krieg um Getreide und Öl hat nie aufgehört!“, 27.05.2023.

Auch in China schauen Nutzer:innen mit Sorge auf den Krieg in der Ukraine:

„Die Sanktionen der westlichen Länder gegen Russland und Russlands Gegenmaßnahmen verwandeln den Russland-Ukraine-Konflikt in ein globales politisches Spiel, was eine enorme Unsicherheit und Bedrohung für die Ernährungssicherheit darstellt.“
Bilibili-Video mit dem Titel „Wie wirkt sich die Verschlechterung der Lage in Russland und der Ukraine auf die Ernährungssicherheit in China aus? Kann China eine neue Lebensmittelkrise vermeiden?“, 25.01.2023

Was bedeutet das?

Viele der Stimmen, die eine Krise der Ernährungssicherheit zurückweisen, zitieren direkt die offizielle Rhetorik oder imitieren diese. In vielen dieser Videos tauchen auch Aussagen wie „absolut sichere Ernährungsversorgung” oder „wir haben genügend Lebensmittelreserven“ auf – nicht selten ohne eine weitere Begründung.

Alle Plattformen sind in unterschiedlichem Maße von parteistaatlichen Konten und ihren Erzählweisen durchdrungen bzw. wiederholen diese. Die im kollektiven Gedächtnis noch immer verwurzelte Erinnerung an Hungersnöte spielt dabei auch in der jüngeren chinesischen Geschichte eine Rolle: Gedanken an eine handfeste Nahrungsmittelkrise werden deshalb möglicherweise verdrängt.

Die chinesische Regierung weiß um die Wichtigkeit der Ernährungssicherheit. Sie ist essenziell für die soziale Stabilität und damit die eigene Legitimität. Noch scheint die Stimmungslage entspannt zu sein. Aber die strukturellen Probleme bleiben. Die KPC wird nicht nur konkrete Maßnahmen zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung beschließen, sondern auch die Stimmung und Positionierungen in Online-Foren genau beobachten und weiter „positive Energie“ verbreiten. Staatsmedien und parteinahe Influencer dürften an ihrem Erzählweise festhalten, dass im Fall einer Verschlechterung der Lage nur die Regierung in Beijing das Überleben der eigenen Bevölkerung sichern könne.

Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.