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Liberalismus-Kolloquium

Die liberale Demokratie als „beste Staatsform“

Ohne zu übertreiben kann dieses Jahr auch als Rathenau-Jahr bezeichnet werden: Mit Gedenkveranstaltungen, Publikationen, Diskussionsrunden und Schulprojekten wurde an Walther Rathenau als Politiker, Publizisten und Unternehmer erinnert. Es war ein bemerkenswert breites Gedenken – von jungen Menschen über jüdische Gemeinden, der Wirtschaft bis hin zum Bundespräsidenten.

Dass der 100. Todestag intensiv wahrgenommen wurde, hat nicht nur mit der Erinnerung an Rathenaus Berufung ins Außenministerium und seiner brutalen Ermordung durch die Gegner der Weimarer Republik im Juni 1922 zu tun: Vielmehr lassen sich die Probleme, denen sich Rathenau in einer Zeit der Umbrüche und politischen Weichenstellungen stellte, auf die gegenwärtigen Krisenlagen in Europa und der Welt beziehen. Dies gilt für die Frage der inneren Stabilität der Demokratie und ihrer Gefährdung, ebenso für die Außenpolitik und erst recht für die Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft.

Anlass genug, um im diesjährigen Liberalismus-Kolloquium zentrale Aspekte des Wirkens Rathenaus in den Blick zu nehmen und zugleich ein Resümee des Gedenkjahres zu ziehen. Die Diskussionen und Vorträge der vom Archiv des Liberalismus ausgerichteten wissenschaftlichen Tagung bestätigten die sehr unterschiedlichen Deutungen, die das politische, wirtschaftliche und publizistische Wirken des innovationsfreudigen Vordenkers erfahren hat. Das hängt, wie einführend der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Prof. Karl-Heinz Paqué, betonte, mit der ungewöhnlichen Persönlichkeit Rathenaus zusammen – eines Mannes vieler Eigenschaften und überraschender Einsichten: ein Großindustrieller, der sich für Gemeinwirtschaft aussprach; ein Visionär, der in politischer Verantwortung aber pragmatisch handelte; ein debattenfreudiger Publizist, der gleichzeitig sein Unternehmen in die Globalisierung führte; ein Liberaler, der mit den Widersprüchen seiner Zeit offen umging und kein Freund einfacher Lösungen war.

„Vertrauenswürdigen Schuldner“

Am Beginn des zweitägigen Kolloquiums stand mit der Außenpolitik die markanteste politische Rolle Rathenaus im Fokus. Unstrittig, dass der Wiederaufbau- und Außenminister mit der Verständigungspolitik Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg als „vertrauenswürdigen Schuldner“ (Christiane Scheidemann) zurück auf die internationale Bühne bringen wollte. Damit zusammenhängend führte Rathenau die bis heute zentralen liberalen Prinzipien in die internationale Politik ein: Multilateralität, Selbstbestimmung und wirtschaftliche Verflechtung als Grundlage friedlicher Koexistenz und möglichst gleichberechtigter Beziehungen. Leitlinien, die später von Gustav Stresemann fortgeführt wurden.

War der Bankier und Unternehmer Rathenau überhaupt ein erfolgreicher Wirtschaftsführer? Der gut begründeten Skepsis des Bonner Historikers Joachim Scholtyseck lässt sich entgegenhalten, dass mit Rathenau ein neuer Typus des Unternehmers in die Entscheidungsebenen der Konzerne trat: vielseitig gebildet, technologieoffen, an der Schnittstelle von Industrie, Banken, staatlicher Verwaltung und Öffentlichkeit, also ein Mittelsmann zwischen Industrie und Finanzwelt, weniger der operative CEO. Die Wirtschaftshistorikerinnen Andrea Rehlinger (Augsburg) und Heike Knortz (Karlsruhe) betonten insbesondere die Flexibilität der ordnungspolitischen Vorstellungen Rathenaus. Seine Utopie einer „neuen Wirtschaft“ ordnete er den jeweiligen praktischen Erfordernissen unter: in Kriegszeiten der Notwendigkeit, Produktion und Verteilung der knappen Ressourcen effizient zu steuern, nach dem Krieg dem Wiederaufbau der wirtschaftlichen Produktivität und in der Reparationsfrage der Verständigung mit den Alliierten. Die gewünschte Neuordnung blieb aber Leitbild: Unternehmerische Selbstverantwortung verbunden mit staatlichen Impulsen, ergänzt um gemeinwirtschaftliche Formen – „Wirtschaft ist nicht Privatsache, sondern res publica, die Sache Aller“. Ob Rathenau damit einen Pfad in die erfolgreiche soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik und bis zu den „Freiburger Thesen“ legte, blieb strittig.   

Anregend und kontrovers diskutiert wurden auch die politischen Haltungen und die in vielen Schriften niedergelegten Zukunftsentwürfe Rathenaus. Der Leiter des Archivs des Liberalismus, Ewald Grothe (Wuppertal), sah in Rathenau einen „Überzeugungsrepublikaner“. Mit seiner stärkeren emotionalen Verankerung erfasst dieser Begriff die eigenständige Position des im Weimarer Linksliberalismus aktiven Rathenau sicher präziser als das vertraute, an Thomas Mann geschärfte Attribut „Vernunftrepublikaner“. In jedem Fall war Rathenau zwar noch durch das Kaiserreich tief geprägt, aber eben kein Anhänger des alten Systems. In seinen Augen war die Republik leistungsfähiger als die Monarchie. Er trauerte gerade nicht vergangenen gesellschaftlichen Ordnungen nach, sondern votierte für neue Leitbilder – wie es in seiner Schrift „Von kommenden Dingen“ aus dem Jahr 1917 eindrucksvoll niedergelegt ist.

Rathenaus Ermordung wurde zum Fixpunkt vielfältiger politischer Aneignung

Dieser Bestseller erinnere in seiner Motivation und Zielrichtung – so Gangolf Hübinger (Frankfurt/Oder) – durchaus an Ralf Dahrendorfs „Lebenschancen“ und die Suche nach einer „freien Bürgerlichkeit“. Rathenaus fundamentale Kulturkritik sei gerade nicht konservativ und antibürgerlich – dies die Lesart von Rüdiger Graf (Potsdam) –, sondern ziele darauf, in einer politisch und gesellschaftlich existentiellen Situation die bürgerlichen Kräfte zu reanimieren. Es sei geradezu ein Aufruf an das liberale Bürgertum, die Republik zu retten und die Prinzipien von Freiheit, Verantwortung und Gemeinschaft umzusetzen – mithin eine „Gegenrede zum antibürgerlichen Diskurs seiner Zeit“. Eine spannende Wendung in der Deutung Rathenaus, die dessen politisches Denken für heutige Krisenlagen überaus fruchtbar machen kann.

Das Nachleben Rathenaus in der deutschen Öffentlichkeit war – bei aller Vielfältigkeit, wie Martin Sabrow (Potsdam) betonte – doch im Wesentlichen vom Ende her bestimmt: Seine Ermordung wurde zum Fixpunkt vielfältiger politischer Aneignung – in Weimar, in der Bundesrepublik, ja selbst in der DDR. Im Nationalsozialismus dagegen wurden die Denkmäler geschändet und die Erinnerung an das Wirken des Außenministers getilgt. Hierbei den Blick über Deutschland hinaus zu weiten, birgt neue Sichtweisen: Carola Dietze (Jena) charakterisierte das Attentat von 1922 als „terroristische Gewalttat“, die im Kontext einer weit zurückreichenden internationalen Strategie der Gewaltkommunikation stehe. Doch bleibt bei allen Vergleichen zu betonen, dass Rathenau nicht nur als Repräsentant der Weimarer Demokratie ins Visier der Republikfeinde geriet, sondern auch und besonders als deutscher Jude. Sein heftiges Ringen mit dieser Identität ist bekannt; welche Zerrissenheit es bedeutete, verdeutlichte die sensible Annäherung des Marburger Historikers Ulrich Sieg.

Die gut besuchte Tagung machte deutlich, warum Rathenaus Wirken als Politiker und Unternehmer, Intellektueller und Publizist auch heute unvermindert anregt: Nicht vergangene Konflikte und Kontroversen werden im analytischen Blick auf Rathenau verhandelt, sondern sehr gegenwärtige Probleme, wie sie in Umbrüchen und Krisenlagen erfahren werden. Ganz in diesem Sinne akzentuierte der Freiburger Historiker und Liberalismus-Kenner Jörn Leonhard die komplexe Persönlichkeit „Rathenau“ im Zeitalter der Extreme: Nicht als Sinnbild einer in Auflösung begriffenen Epoche, als Symbol verlorener Bürgerlichkeit, sei Rathenau wegweisend, sondern vielmehr in seinen modernen Denkarten, wie sie sich in seiner ungeheuren und vielfältigen Produktivität widerspiegele.

Die Beiträge des Kolloquiums beflügeln die weitere wissenschaftliche wie gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit den Grundlagen unserer liberalen Demokratie und werden im kommenden Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung dokumentiert.