EN

Internationale Politik
Zerrissenes Israel und drohende Eskalation im Westjordanland

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, Mitte, lächelt Itamar Ben Gvir zu.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu, Mitte, lächelt Itamar Ben Gvir zu.

© picture alliance / EPA | ABIR SULTAN  

Freiheit.org: Es scheint heute, dass die israelische Polizei inzwischen sowohl palästinensiche Terroristen wie israelische Brandstifter verhaftet hat. Beruhigt sich die Lage aktuell?

Julius von Freytag-Loringhoven: Wir dürfen da nicht zu vorschnelle Schlüsse ziehen. Mordanschläge von palästinensischen Terroristen und Gewalt von jüdischen Siedlern gegen palästinensische Zivilisten gab es leider in trauriger Regelmäßigkeit in den vergangenen Jahren. Aber die aggressiven Parolen des neuen Polizeiministers Itamar Ben Gvir - weil er Teil einer extremistischen Organisation war durfte er nicht einmal in der israelischen Armee dienen - haben die Stimmung eindeutig angefacht. Die Gewalt von Siedlern hat seit der Regierungsbildung zugenommen und auch die Sicherheitsbehörden sind angehalten weniger zimperlich vorzugehen. Gleichzeitig hat die Palästinensische Autonomiebehörde an Einfluss einbüßt. Von den meisten Palästinensern werden sie nur als korrupte Kollaborateure wahrgenommen, wegen ihrer Kooperation mit Israel - auch in sensiblen Sicherheitsfragen. Damit steigt der Einfluss kleiner bewaffneter Gruppen, die das Westjordanland in Anarchie stürzen lassen könnten. Dass jetzt Terroristen wie brandschatzende Siedler verhaftet wurden ist nur der Versuch des israelischen Sicherheitsapparats wieder Herr über die Lage zu werden.

Sie sagen aber, dass die israelische Regierung auch gespalten ist im Umgang mit der bedrohten Sicherheitslage. Steht da ein ultra-nationalistischer Itamar Ben Gvir gegen einen rechts-konservativen Benjamin Netanjahu?

Ben Gvir und Netanjahu sind wohl tatsächlich die beiden Pole der Spaltung. Die rechteste Regierung der israelischen Geschichte beinhaltet Netanjahu’s konservative bis rechts-populistische Partei Likud, ultraorthoxe Parteien die sich mehr um ihre eigenen Pfründe scheren als um den Konflikt und eben die religiösen ultra-nationalistischen Koalitionspartner wie Polizeiminister Ben Gvir und Finanzminister Smotrich. Avi Maoz, Chef einer dritten Kleinstpartei des extremen Blocks, hat gerade gestern die Regierung verlassen - aus Ärger über die fehlende Unterstützung Netanjahu’s für seine national-religiösen und homophonen Projekte. Und gerade im Zusammenhang mit der Gewalt im Westjordanland zeigen sich die tiefen Gräben: Likudpolitiker fordern das Gewaltmonopol des israelischen Staates ein, während radikalere Partner die Siedlergewalt legitimiseren.

Und gleichzeitig demonstrieren heute im ganzen Land Israelis gegen die Rechtsreform der neuen Regierung. Wie hängt das zusammen?

Bei dem Versuch die institutionelle Ordnung Israels revolutionär zu verändern zeigt sich leider gewisse Einigkeit in der Regierungskoalition. Denn über die Jahre wurden die Gerichte in der israelischen Rechten als Schreckgespenst aufgebaut. Der liberale Kern einer Demokratie ist, dass Gerichte jeden Einzelmenschen auch vor politischen Mehrheiten und gewählten Regierungen schützen können. Und genau das würde nach aktuellem Stand durch die radikalen Reformen verhindert, beispielsweise mit der Möglichkeit jedes Urteil mit einfachen Mehrheiten im Parlament zu überstimmen. Der deutsche Justizminister Marco Buschmann hat die deutschen Sorgen darum letzte Woche in Israel diplomatisch aber klar in seinen Gesprächen deutlich gemacht. Und diese Sorge teilt er mit den meisten Israelis. Prozentual zur Bevölkerung gehen jedes Wochenende mehr Israelis demonstrieren als bei den größten Demonstrationen der Geschichte der Bundesrepublik. Das ist ernst. Aber mit viel Glück könnte das dazu beitragen, dass doch noch ein Kompromiss für die institutionelle Ordnung Israels verhandelt werden kann, der verhindert, dass die israelische Demokratie ihren liberalen Kern verliert.

15 März
15.03.2023 19:00 Uhr
virtuell

What's up Israel

Ein Blick auf die aktuelle Entwicklung