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China
Zensur im Internet: Diskussionen um offizielle Kritik an Sprachcodes

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© picture alliance / Xinhua News Agency | Jiang Han

Was ist passiert?

In einem Anfang Mai vom Meldezentrum für gesetzeswidrige und unangemessene Inhalte der China Cyberspace Administration (CAC) preisgekrönten und auf deren Webseite veröffentlichten Musikvideo zeigt ein maskierter Anonymous-Vertreter, wie er das Internet als Plattform für politischen Aktivismus nutzt. Er rappt: „Mein Bildschirm, er ist meine Maske, die Tastatur meine Waffe. Ich kommentiere Politik, das ist meine Aufgabe, genieße es in der digitalen Welt, das ist meine Ekstase.“ Das wird in dem Video von einem Polizisten hinter dem Bildschirm genau beobachtet. Eine Stimme aus dem Off erinnert daran, dass das Internet kein Freiraum für unterschiedliche Meinungen sei.

Dieses Video ist Teil der jüngsten Kampagne der chinesischen Regierung, Inhalte im Internet zu regulieren. Die Regierung ermutigt die Bürger wieder verstärkt, „Gerüchte“ zu melden, dabei „positive Energie“ auszustrahlen und einen „sauberen Raum“ zu schaffen.

Jedoch finden Internetnutzer immer wieder kreative Wege, um ihre Meinungen aus- zudrücken. Abkürzungen auf Basis der lateinischen Umschrift für chinesische Schriftzeichen, Pinyin, sind sehr beliebt. Ein Beispiel ist „gg“ für „gege“ (哥哥, älterer Bruder), was im Internetslang für „bro“ steht.

Parteistaatliche Medien kritisieren, die Abkürzungen würden die chinesische Sprache „verarmen lassen und verschmutzen“.

Die Sprachkritik ist auch Thema auf der Frage-und-Antwort-Plattform Zhihu. Mehr als 3000 Reaktionen gingen zum Beispiel im Frühjahr auf die Frage ein: „Medien kritisieren Internetbegriffe wie ‚yyds‘ und ‚juéjuézi (绝绝子)‘ [Anm.: ‚toll, wunderbar‘] beklagen, dass die Menschen ohne diese ‚Begriffe‘ nicht mehr sprechen können – beeinflusst die Internet-Sprache tatsächlich unsere Ausdrucksfähigkeit?“

Was sagen Chinas Netizens dazu?

Die Kommentare auf Zhihu lehnen die offizielle Kritik überwiegend ab. Ihre Argumente: die Verwendung von Abkürzungen gehört zur Ausdrucksfreiheit im Internet und ist ein Selbstschutz gegen die Zensur. Andere unterstützen die offizielle Kritik: Abkürzungen erschwerten das Lesen und verwässerten die chinesische Sprache.

Im Folgenden haben wir exemplarisch Stimmen aus den vier meisterwähnten Kategorien beider Lager ausgewählt.

Cyberspace Aufsichtsbehörde
Tabelle Abkürzungen

Die Nutzung von Abkürzungen im Internet schmälert nicht zwangsläufig die alltägliche Ausdrucksfähigkeit:

„Wenn man heute in einer privaten Situation einfach nur Blumenshorts und Flip-Flops trägt, wird man dann etwa morgen keine ordentliche Kleidung mehr tragen? Wird man zu einem Vorstellungsgespräch, einer Hochzeit oder einem Meeting keinen Anzug tragen?“
Prächtige Zither (锦瑟阑珊), 02.03.2023, 45.499 Likes

Kritik an Internetsprache verdeutlicht Entfremdung zwischen kulturellen Eliten und Volk:

„Die [elitären] ‚Vollzeit-Kulturschaffenden‘ sind sehr sensibel gegenüber einem [ihrem] Monopol auf kulturelle Ressourcen, denn dies ist ihre Lebensgrundlage. Populäre Abkürzungen sind kulturelle Ressourcen, die sich spontan in der Gesellschaft bilden. […] Daher werden sie natürlich von diesen [elitären] ‚Vollzeit-Kulturschaffenden‘ auf den von ihnen kontrollierten Kanälen angegriffen und unterdrückt.“
Die Krone des Tokamak (托卡马克之冠), 02.02.2023, 5882 Likes

Abkürzungen sind eine Reaktion auf Zensur:

„Löschen Sie [Zensurbehörde] doch nicht...“
Nicht harmonisieren lassen (不要被和谐), 03.12.2022, 7831 Likes

Die Aussage kritisiert die Zensurbehörde dafür, sich als moralisch überlegen darzustellen, wenn sie die Verwendung von Abkürzungen aus Gründen der Ausdrucksfähigkeit kritisiert, während sie aus Sicht des Nutzers den freien Ausdruck im Internet selbst einschränken will.

Abkürzungen Zensur

Abkürzung durch lateinische Umschrift erschwert das Verständnis von Sprache:

„Bei erfundenen Ausdrücken [in chinesischen Schriftzeichen] kann man noch den Sinn durch den Kontext erschließen, bei Buchstabenkombinationen sieht man jedoch vor lauter Nebel nicht mehr durch. ‚Yygq‘ kann noch als ‚yin yang guai qi‘ (阴阳怪气 merkwürdig und unheimlich) entschlüsselt werden, aber bei ‚yjgj‘ [Anmerkung der Redaktion: 有句港句/有句讲句 Satz für Satz sprechen; die ganze Wahrheit sagen] bleibt man völlig im Dunkeln.“

异化的词汇尚可望文生义,字母组合则恍如天书,yygq还能拼出阴阳怪气,yjgj则雾水满头。

Moderne Mittelschicht (摩登中产), 12.12.2022, 2235 Likes

Was bedeutet das?

Die Kontrolle über die Sprache und was gesagt oder nicht gesagt werden darf, ist ein zentrales Merkmal der Herrschaft der KPC. Chinas Netzbürger:innen wollen durch kreatives Nutzen der Abkürzungen diese staatliche Kontrolle aushebeln und heraus- fordern. Anderen geht es aber durchaus auch um die Sprachästhetik und die Verständlichkeit des Chinesischen.

Aus Sicht des chinesischen Parteistaats sind solche Abkürzungen besonders herausfordernd, da sie im Vorfeld kaum präventiv durch automatisierte Zensurfilter zu erkennen sind, sondern durch menschliche Zensor:innen entdeckt und entschlüsselt werden müssen. Dies dauert in der Regel länger, so dass sich „kritische Inhalte“ einige Zeit ungestört im Internet verbreiten können.

Zudem bedienen sich die Abkürzungen der lateinischen Umschrift und nicht der chinesischen Schriftzeichen, die die KPC als „chinesisches Kulturgut“ definiert hat. Nicht einmal Mao Zedong konnte sich Ende der 1950er Jahre mit deren Abschaffung durchsetzen.

Die chinesische Sprache ist aus Sicht Beijings auch ein wichtiger Träger von Chinas Softpower. Im Rahmen der „Globalen Zivilisationsinitiative“, die Partei- und Staatschef Xi Jinping Mitte März verkündete, möchte die chinesische Regierung Chinesisch noch mehr im Ausland verbreiten. Parteistaatliche Kulturangebote legen bereits jetzt großen Wert auf Kalligrafie. Schönschreibübungen von lateinischen Buchstaben dürften kaum im Sinne der KPC sein.