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Internationale Politik
Wird Estland seine liberale Richtung beibehalten?

Estonian and European Flag

Estnische und Europäische Flagge 

© picture alliance / Zoonar | Valerio Rosati

Der Wahlsieg ist nur der erste Schritt

Die Vorwahlumfragen zeigen deutlich, dass die liberale Reformpartei, die sich stabil bei etwa 30 % hält, der klare Favorit ist. Ihre Vorsitzende, die derzeitige Premierministerin Kaja Kallas, ist sogar noch beliebter, denn über 37 % der Bevölkerung wollen sie im Amt bestätigt sehen. Man darf hier jedoch nicht den Fall 2019 vergessen, als die liberale Partei ebenfalls die Wahlen gewann, aber nicht an die Regierung kam. Die Reformpartei hatte zwar die größte Anzahl an Sitzen im Parlament, aber drei andere Parteien schlossen sich zusammen, um eine gemeinsame Regierung zu bilden: Zentrumspartei (Mitte-links mit sozialpopulistischen Elementen), EKRE (Estnische Konservative Volkspartei mit extremistischen Elementen), Isamaa („Vaterland“, konservativ). Es war damals das erste Mal, dass überhaupt eine extremistische Partei in das estnische Parlament einzog. Doch diese Regierung hielt nicht lange. Schon bald kamen Populismus- und Korruptionsskandale ans Licht, und die Tatsache, dass eine extremistische Partei an der Regierungskoalition beteiligt war, rief auch unter vielen Abgeordneten der Zentrumspartei Kritik hervor. Der damalige Ministerpräsident Jüri Ratas geriet unter großen Druck und war am Ende gezwungen, zurückzutreten.

Im Januar 2021 wurde daher eine neue Regierungskoalition aus Reformpartei und Zentrumspartei gebildet, und Kaja Kallas wurde neue Premierministerin. Das schien eine logische Wahl, da beide Parteien Mitglieder der europäischen Fraktion Renew Europe sind und daher einander eigentlich nahe stehen sollten. In Wirklichkeit war aber das Gegenteil der Fall: Ratas schuf im Wesentlichen eine Opposition innerhalb der Koalition, und die Uneinigkeit zwischen den Parteien überschritt eine unerträgliche Schwelle, als der russische Angriffskrieg in der Ukraine begann. Kaja Kallas selbst vertrat eine sehr klar umrissene pro-ukrainische Ausrichtung, während die Zentrumspartei wegen ihrer traditionell pro-russischen Tendenzen eher der extremistischen EKRE-Partei näher stand. Dazu hatte die Zentrumspartei ein immer noch gültiges Kooperationsabkommen mit Putins Partei Einiges Russland. Diese Regierungskoalition endete daher im Juni 2022 auf Betreiben von Kaja Kallas. Bereits im Juli 2022 unterzeichnete die Reformpartei eine Koalitionsvereinbarung mit der Isamaa und der SDE (sozialdemokratische Partei). Kallas wurde erneut zur Premierministerin gewählt.

Estland hat in der letzten Legislaturperiode eine sehr turbulente Entwicklung durchgemacht, dabei aber eine liberale Ausrichtung beibehalten. Schon jetzt ist klar, dass die Siegerpartei nicht diejenige sein wird, die die meisten Sitze gewinnt, sondern diejenige, der es gelingt, eine Regierungskoalition zu bilden. Experten sind sich einig, dass die zwei möglichen Koalitionen im Wesentlichen aus Zentrumspartei / EKRE / Isamaa und Reformpartei / Eesti 200 („Estland“, eine noch recht junge sozial- und wirtschaftsliberale Partei) / SDE bestehen werden.

Die Hauptthemen: Sicherheit und Energie

Während das Thema Inflation sich wie ein roter Faden durch die politische Diskussion in ganz Europa zieht, ist im Falle Estlands bemerkenswert, dass das Thema Wirtschaft im Wahlkampf keine große Rolle spielt. In Estland geht es hauptsächlich um Sicherheit und die Energiestrategie des Landes.

Das Sicherheitsthema ist nicht überraschend, da Estland ein direkter Nachbar Russlands ist. Nach der Ausweisung von 21 russischen Diplomaten aus Estland im Januar 2023 verschlechterten diese sich Beziehungen weiter. Russland wies daraufhin den estnischen Botschafter in Moskau aus und stufte die diplomatischen Beziehungen zu dem baltischen Land auf die Ebene von Geschäftsträgern zurück. Estland reagierte mit dem gleichen Schritt. Alle Parteien sind sich nun einig, dass die Mittel für die Landesverteidigung aufgestockt werden müssen, und sie unterstützen die Ukraine im Krieg, allerdings unterscheiden sie sich im Umfang der Unterstützung. Während die liberale Reformpartei für alle erdenklichen Formen der Hilfe offen ist und sich mit der Ukraine solidarisch zeigt, spricht sich die rechtsextremistische EKRE für die Unterstützung der Ukraine zwar aus, unterstützt jedoch keines der Regierungsvorhaben in diese Richtung. EKRE ist gegen die Lieferung von Waffen und humanitäre Hilfe für die Ukraine und fordert die Politik auf, sich vor allem auf Estland zu konzentrieren und den estnischen Bürgern zu helfen.

Hand in Hand mit der Frage der Sicherheit geht die Frage der Energie und des damit verbundenen Green Deals. Für die meisten Parteien sind die „Green Transition“ und die Energiefrage zu einem wichtigen Punkt auf ihrer Wahlagenda geworden. Wie Kristen Michal aus der estnischen Reformpartei erklärt, wird die Energiesicherheit vor allem durch einen Mix von Technologien gewährleistet: Solar- und Windenergie, Kernenergie, Ölschiefer-Reservekraftwerke und die Vernetzung mit Europa. EKRE ist die einzige Partei, die eine grüne Energiewende nicht auf ihrer Agenda hat, sondern wieder einmal auf populistische Rhetorik mit nationalistischem Gähnen zurückgreift und behauptet, dass andere Länder in der EU sich in der Energiebeschaffung „Extrawürste“ gesichert hätten. Unabhängig vom Wahlausgang wird dennoch eines der Hauptthemen das neue Klimagesetz Estlands sein, nach dem die Unternehmen einen Überblick über die Klimapläne des Staates haben sollen, die auch zu strategischem Wachstum führen sollen.

Digitalisierte Wahlen: E-Voting

Estland ist für seine innovativen Ansätze bei der Digitalisierung bekannt, und auch die Wahlen sind hier keine Ausnahme. Jeder, der eine Handy-ID oder einen Personalausweis und einen Computer hat, kann beispielsweise elektronisch wählen. In diesem Jahr begann die elektronische Stimmabgabe am Montag, dem 27. Februar, um 9 Uhr morgens und wird bis Samstag, den 4. März, 20 Uhr zur Verfügung stehen. Während dieser Zeit können die Wähler eine unbegrenzte Anzahl von Stimmen abgeben (d. h. ihre Stimme ändern), wobei am Ende nur ihre letzte Stimme zählt.

Elektronische Wahlen wurden in Estland 2005 eingeführt, und die Wahlbeteiligung lag zunächst bei weniger als 2 %. 2019, bei der letzten Parlamentswahl, lag die elektronische Wahlbeteiligung bereits bei fast 44 %, sodass dieses Jahr eine noch höhere Wahlbeteiligung erwartet wird. Einer der Gründe dafür ist auch, dass etwa 15-20 % der estnischen Bevölkerung im Ausland leben. Außerdem fällt die Wahlwoche mit den Schulferien zusammen, daher wird erwartet, dass viele Wähler mit ihren Kindern den Schnee in den Bergen genießen werden. Aus diesem Grund fordern die Parteien die Wähler auf, ihren Personalausweis und ihren Computer mit in den Urlaub zu nehmen, damit sie von dort wählen können. Dies könnte einen großen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.

Eine spannende Wahlwoche

In Estland findet also eine spannende Wahlwoche statt. Niemand wagt zu erraten, wie diese Wahlen mit den genannten zahlreichen Variablen verlaufen werden und vor allem, welche Regierungskoalition letztendlich gebildet werden wird. Die liberale Reformpartei hat mit ihrer Spitzenkandidatin ein großes Potenzial für diese Wahlen, aber wie so oft kann man auch hier vorab nie sicher sein.

Ester Povýšilová ist Projektmanagerin der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Büro für die Mitteleuropäischen und Baltischen Staaten in Prag.