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Wer soll das bezahlen?

Der Demografische Wandel trifft die sozialen Sicherungssysteme in Südkorea hart

Das deutsche Sozialsystem blickt auf eine lange Tradition zurück. Die ältesten drei Säulen - Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung - gehen auf die 1880er Jahre und den Langzeitkanzler Otto von Bismarck zurück, die Arbeitslosenversicherung auf das Jahr 1927, in die Zeit des vom Zentrum gestellten Reichskanzlers Wilhelm Marx. Lediglich die Pflegeversicherung ist selbst noch nicht im Rentenalter. Sie wurde 1995 eingeführt, am Ende der konservativ-liberalen Ära des jüngst verstorbenen Helmut Kohls.

Ähnlich jung wie die deutsche Pflegeversicherung sind die Säulen der Sozialpolitik in Südkorea. Zwei seien hier kurz in den Blick genommen: die Renten- und die Arbeitslosenversicherung.

Neun Prozent im OECD-Vergleich eher niedrig

Die staatliche Rentenversicherung wurde 1987 eingeführt, im selben Jahr, als Südkorea der Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie gelang. Die Versicherung steht Arbeitgebern, abhängig Beschäftigten und Selbstständigen offen, insgesamt gibt es vier Versicherungsarten.

Die erste taucht in der englischsprachigen Fachliteratur unter dem Namen National Pension Scheme (NPS) auf. Sie ist verpflichtend für Beschäftigte von Betrieben mit mehr als drei Arbeitnehmern. Der Beitrag von Arbeitgebern und Arbeitnehmern beträgt je 4,5 Prozent. Im OECD-Vergleich sind neun Prozent eher niedrig – in Deutschland beträgt der Beitragsatz aktuell 18,7 Prozent.

Mit sechzig Lebensjahren die volle Höhe erreicht

Die Rentenformel enthält einen fixen und einen einkommensabhängigen Part. Die Ansprüche steigen um durchschnittlich 1,5 Prozent pro Beitragsjahr. Mit dem sechzigsten Lebensjahr wird die volle Höhe erreicht. 2015 zahlten 54 Prozent der Alterskohorten zwischen 18 und 59 Jahren und damit gerade mal jeder zweite in das NPS ein, deutlich weniger als in anderen OECD-Länden. 2016 betrug das Rentenniveau knapp vierzig Prozent des bei Renteneintritt erreichten Bruttolohns.

Auch die drei anderen Arten der Rentenversicherungen - die Pensionskassen für Regierungsbeamte, für Militärangehörige und für Lehrer privater Schulen –  funktionieren nach dem Umlageverfahren. Auch hier gilt das Paritätsprinzip bei der Beteiligung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, in diesem Falle der Staat. Mit 17 Prozent sind die Beiträge zwar fast doppelt so hoch wie im Falles des NPS. Mit siebzig Prozent der letzten Bruttolohns nach dreißig Beitragsjahren sind die Altersbezüge allerdings auch deutlich höher.

Drei Frauen in einem Seniorenheim in Anseoung-si, Südkorea
In einem Seniorenheim in Anseoung-si, Südkorea © cc-by 2.0 USAG-Humphreys

Grenzen der Belastbarkeit

Alle vier Versicherungsarten nähern sich der Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die Kasse für Militärangehörige schreibt bereits seit Jahrzehnten Defizite. Dem NPS prognostiziert die OECD einen Absturz in die roten Zahlen für das Jahr 2044. Auch im Falle Südkoreas hat derlei vor allem mit der demografischen Entwicklung zu tun. 2015 kamen auf einen Rentenempfänger noch 5,1 Beitragszahler. Bis zur Jahrhundertmitte wird sich dieses Verhältnis wegen des Geburtenrückgangs und einer steigenden Lebenserwartung wie in den meisten Industrienationen zuungunsten der Beitragszahler entwickeln: 2050 werden 1,5 Geber für einen Rentner aufkommen müssen.

Längst werden auch in Südkorea die gängigen Lösungsmodelle – Erhöhung der Beiträge, Senkung der Ansprüche und Anhebung des Renteneintrittsalters – diskutiert. Rentenexperten empfehlen zunächst eine Erhöhung der Beiträge. Bleiben dürfte es dabei nicht.

Altersarmut lange schon ein Thema

Altersarmut ist bei alldem schon jetzt ein Problem. Knapp jeder zweite über 65jährige ist betroffen, viermal mehr als im OECD-Durchschnitt (rund zwölf Prozent). Die Grundrente wird im kommenden Jahr um 50.000 auf 250.000 Won angehoben, auf knapp zweihundert Euro. Diese Initiative geht auf Moon Jae-in zurück, Moon hatte den Urnengang nicht zuletzt aufgrund seiner sozialpolitischen Agenda für sich entschieden.

Auch die Arbeitslosenversicherung in Südkorea ist erst gut zwanzig Jahre alt. Am 1. Juli 1995 wurde sie eingeführt. Seit dem 1. Oktober 1998 ist sie verpflichtend. Ausgenommen sind u.a. land-, forst- und fischereiwirtschaftliche Betriebe mit weniger als fünf Angestellten oder private Haushaltshilfen. Eingezahlt wird in zwei Töpfe: für die Leistungen im Falle der Arbeitslosigkeit zum einen, für eine Art Arbeitsplatzsicherung zum anderen. In den ersten zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam ein, beide eine Summe in Höhe von 0,65 Prozent des Monatseinkommens des Arbeitnehmers. In den zweiten indes zahlen allein die Arbeitgeber ein. Der Beitrag variiert zwischen 0,25 und 0,85 Prozent, 0,25 Prozent im Falle von Betrieben mit weniger als 150 Angestellten, 0,85 bei solchen mit mehr als eintausend Mitarbeitern.

Nicht zuletzt mit sozialpolitischer Agenda gewonnen

Um anspruchsberechtigt zu sein, müssen Arbeitnehmer mindestens 180 Tage, also etwa ein halbes Jahr vor Jobverlust, in die Versicherung eingezahlt haben. Die Anspruchsdauer beläuft sich auf neunzig bis 240 Tagen, abhängig von Alter und Erwerbsdauer. Die Bezugsdauer ist damit eine der kürzesten aller OECD-Staaten. Die Höhe der Arbeitslosenunterstützung beträgt fünfzig Prozent des Durchschnitts des bis zum Verlust des Arbeitsplatz bezogenen Bruttolohns. Die Untergrenze liegt bei neunzig Prozent des Mindestlohns, die Obergrenze bei einem Tagessatz von 40.000 Won, also gut dreißig Euro.

Der Mindestlohn wurde im Übrigen unlängst um satte 16,4 Prozent auf 7,530 Won pro Stunde (etwa sechs Euro) angehoben, ebenfalls von der Regierung des neuen Präsidenten Moon. An benevolenten sozialpolitischen Vorstößen mangelt es also derzeit nicht in Südkorea. Ob die neue Regierung in Seoul allerdings auch den Mut hat, die zahlreichen strukturellen Schwächen des Sozialsystems zu korrigieren, bleibt abzuwarten.

Dr. Lars-André Richter leitet das Büro Korea der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit mit Sitz in Seoul.

Simon Kessel absolvierte im Juni und Juli ein Praktikum im FNF-Büro Korea. Er studierte Politikwissenschaft und Wirtschaft in Münster.