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Was ist Demokratie?

Was macht Demokratie aus und welche Gefahren drohen ihr im 21. Jahrhundert? In der vorliegenden Broschüre beleuchtet Frido Mann das Verhältnis von Expertentum und Basisdemokratie, blickt auf die Bedrohung durch Desinformation und Extremismus und beschreibt die Verankerung der Demokratie in menschlichen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten. Wie das begleitende Vorwort von Ludwig Theodor Heuss deutlich macht, gilt dabei immer noch das Diktum von Frido Manns Großvater Thomas Mann: Democracy must win.

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Vorwort

Im Frühjahr 1938 hielt der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann eine Reihe von Vorlesungen in den Vereinigten Staaten, die im gleichen Jahr unter dem Titel „The Coming Victory of Democracy“ veröffentlicht wurden. Wie der exilierte Literat zugeben musste, trug er damit eigentlich Eulen nach Athen – schließlich befand er sich im „klassischen Land der Demokratie.“ Allerdings trafen seine Warnungen vor den Gefahren des deutschen Nationalsozialismus auf eine skeptische Zuhörerschaft, für die ein künftiger Krieg – noch dazu unter amerikanischer Beteiligung – weit entfernt schien.

Hellsichtig beschrieb Mann daher die Natur des Nationalismus, „dem es nicht um Moral, sondern um Macht, nicht um menschliche Leistungen, sondern um Krieg“ ginge. Demokratie und Faschismus seien unvereinbar, betonte der Autor der Buddenbrooks, und „jede freundliche Geste“ vonseiten der demokratischen Länder würde „nur als Zeichen der Schwäche, der Resignation und der zeitnahen Abdankung“ gesehen werden. Doch seine Warnungen blieben vorerst ungehört und am 30. September 1938 wurde die tschechoslowakische Demokratie den Machtinteressen Hitlers in München geopfert. „Democracy will win“ – dieser hoffnungsvolle Satz von Mann aus demselben Jahr sollte sich erst sehr viel später erfüllen: 1945 zumindest in Westeuropa, doch erst mehr als sechzig Jahre später auch in Prag – Manns zeitweiligem Zufluchtsort – und den anderen Ländern Mittel- und Osteuropas.

„Democracy will win“ – das Versprechen ist auch der Buchtitel von Frido Manns vielbeachtetem Sachbuch, das 2021 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienen ist und sozusagen die Vorgeschichte des vorliegenden Essays darstellt. Frido Mann greift darin nicht nur die Rede seines Großvaters auf, sondern setzt eine Vielzahl eigener Akzente. Er befasst sich mit den großen Herausforderungen, denen sich die westlichen Demokratien – und vor allem die „unvereinigten Staaten von Amerika“ – stellen müssen. Populismus und Polizeigewalt verlangen ebenso neue Antworten, wie Trump und Corona. Aber trotz aller Sorge über Dialogverweigerung,Polarisierung oder sogar den Versuch Russlands, die amerikanische Präsidentschaftswahl zu manipulieren: Am Ende steht auch bei Frido Mann die Hoffnung und die Zuversicht, dass die Demokratie siegen wird.

In dem vorliegenden Essay für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit baut Frido Mann seine Ideen zur Zukunft der Demokratie noch einmal aus und nähert sich der Frage, was Demokratie eigentlich ausmacht und wie sie sich entwickeln muss, um den vielfältigen Gefahren des 21. Jahrhunderts zu trotzen. Gerade vor dem Hintergrund von Putins brutalem Angriffskrieg auf die ukrainische Demokratie ist die hier vorliegende Selbstvergewisserung über demokratische Grundwerte besonders wichtig.

Frido Mann ist Musiker, Theologe und Professor der Psychologie – vor allem aber ist er ein Weltbürger, der neben der deutschen auch die amerikanische und tschechische Staatsangehörigkeit besitzt. Diese vielfältigen Perspektiven ermöglichen es ihm, im vorliegenden Essay auch einen Aspekt der Demokratie herauszuarbeiten, der im öffentlichen Diskurs oft vernachlässigt wird. Ihm geht es nicht nur um die „äußere Struktur“ der Demokratie, wie sie sich in Wahlrecht, Gesetzen und Institutionen zeigt, sondern vor allem auch um den „intrinsischen Kern“. Dazu gehöre, so Mann, „sowohl der historische, philosophische, ethisch religiöse und der wissenschaftlich psychologische Aspekt der Demokratie als auch die Praxis des zwischenmenschlichen und politischen Dialogs auf kommunikationswissenschaftlicher und psychologisch methodischer Grundlage.“

Besonders viel Vertrauen setzt Frido Mann in die junge Generation, deren „Rechtsempfinden und Verantwortlichkeit“ er bereits „schon vor dem Zeitenbruch des Überfalls von Russland auf die Ukraine“ deutlich zu erkennen vermochte. Gleichzeitig stellt er anregende Überlegungen zum Verhältnis von Expertentum und Basisdemokratie auf und zeichnet ein scharfes Bild von den Gefahren, die der Demokratie durch Desinformation, Duckmäusertum und die „irrationale Flucht in den Extremismus“ drohen. Herausgekommen ist dabei ein flammendes Plädoyer für die Demokratie, das existentielle Herausforderungen klar benennt, aber nie die Hoffnung aufgibt: Democracy will win.

Ludwig Theodor Heuss ist Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Demokratie ist nicht. Demokratie wird.

Die natürliche Voraussetzung für die dem Menschen eingeräumte Möglichkeit einer demokratischen Staatsform ist nicht nur dessen begrenzt freier Wille und seine vernunftgeleitete Selbstbestimmung. Es ist auch sein Streben nach ständiger freier Veränderung und Erneuerung. Dieses Grunderfordernis einer jeden Demokratie gilt selbst für die festgeschriebenen Gesetze, die unter bestimmten Voraussetzungen geändert, ergänzt oder abgeschafft werden können. Noch viel öfter trifft es für tagespolitisch geforderte, erst recht revidierbare administrative Verordnungen zu. Dies ist beispielsweise der Fall bei stark die bürgerlichen Rechte einschränkenden Gesundheitsvorschriften zum Schutz der Bevölkerung beim Kampf gegen eine immer wieder unvorhersehbar ihr Gesicht wechselnde Pandemie oder auch, wenn sich die Voraussetzungen seitens der inzwischen dagegen durchgeimpften Bevölkerung maßgeblich geändert haben. In beiden Fällen wird versucht, im Sinne einer den Bedürfnissen der Menschen gerecht werdenden Demokratie ein störendes Ungleichgewicht zwischen Willensbildung und sich verändernder Praxis zu beseitigen.

In autokratischen Regierungsformen können Menschen ihrem Streben nach Veränderung kaum oder gar nicht folgen, weil ihnen durch willkürliche Bestimmungen und Erlasse „von oben“ die Hände gebunden sind. Sie werden, wenn sie sich ihrem autokratischen System nicht resigniert angepasst oder sich dort ersatzweise irgendwelche Vorteile verschafft haben, ihrer Unzufriedenheit und Ohnmacht durch Proteste Luft machen, solange sie sich nicht zu sehr vor den dafür angedrohten Strafen fürchten. Dieser Protest gegen Diktaturen kann allerdings auch bewundernswert kreativ erfolgen und unter Umständen zu entscheidenden Teilerfolgen führen. Besonders dann, wenn das betreffende Terrorsystem Schwächen oder gar Auflösungserscheinungen zeigt. Die den baldigen befreienden Mauerfall einleitenden friedlichen, sogenannten „Montagsdemonstrationen“ in Leipzig 1989 sind ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Das Feld für diesen gewaltigen Lernschritt in der tief durchwachsenen deutschen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde allerdings jahrzehntelang durch schrittweise diplomatische Annäherungen vorbereitet. Etwas anders verhält es sich mit dem heutigen heldenhaften Verteidigungskampf friedliebender demokratischer Länder wie dem der Ukraine gegen den brutalen Angriffskrieg des mittelalterlich zaristisch gebliebenen russischen Unterdrückerstaats. Nachdem dort anfängliche diplomatische Anstrengungen fehlschlugen, mussten die ukrainischen Verteidiger zu den Waffen greifen; deren gleichzeitigen, weiter unermüdlichen Versuche, mit dem Aggressor friedlich zu verhandeln, bleiben nach wie vor bestehen. Konflikte heute lieber mit Verhandeln statt mit Krieg und Gewalt zu lösen, ist ein Fortschritt unserer Demokratie.

In einer Demokratie wählen die Bürger in geheimer und gleicher Wahl diejenigen Abgeordneten ihrer Parlamente sowie ihr Staatsoberhaupt aus, welche ihren unterschiedlichen politischen Vorstellungen am ehesten entsprechen. Diese Entscheidung setzt die aktive Auseinandersetzung der Bürger mit der Persönlichkeit und der Kompetenz der zur Wahl zur Verfügung stehenden Kandidaten voraus. Deshalb muss der Staat seinen Bürgern auch die Möglichkeit geben, sich möglichst genau über diese zu informieren.

Aufgrund dieser Vielfalt gibt es nie die Demokratie. Jede Demokratie ist anders und ständig im Werden begriffen. Sie hat einen eigenen geschichtlichen Hintergrund und ihr spezifischer Einfluss auf andere Länder oder Bereiche, aber auch ihre Prägung von außen ist genauso spezifisch.

Genauso hat jede Demokratie nicht nur im eigenen Staat Widersacher oder gar Feinde. Skrupellose faschistische oder präfaschistische Machthaber anderer Staaten, die paranoide Angst haben vor dem unerbittlichen Willen der eigenen Bevölkerung zu Freiheit und Demokratie, greifen zunehmend zur Waffe der Wahlmanipulation, der Verbreitung von Fake News, zu Cyberangriffen und zur Finanzierung weltweiter rechtsradikaler Parteien, und neuerdings wagen sie sogar den militärischen Überfall auf demokratische Staaten als Kriegserklärung gegen die Demokratie schlechthin.

Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Entwicklung einer Demokratie hat deren Alter. Je älter Demokratien sind bzw. je länger sie die Stürme der Jahrhunderte mehr oder weniger unbeschadet durchgestanden haben, desto größer ist das Vertrauen, dass sie auch gegenwärtige und zukünftige Krisen durchstehen werden. Dies spricht besonders für die Achterbahnfahrt der ältesten, 250-jährigen US-amerikanischen Demokratie – trotz aller Tiefpunkte. Ein wesentlicher Grund für diesen Niedergang sind Verwahrlosungserscheinungen mit der gefährlichen Tendenz einer schleichenden Verkehrung der Demokratie in eine Oligarchie. Den noch jungen, vor kaum 100 Jahren entstandenen Demokratien auf dem europäischen Festland wie Deutschland fehlt hingegen – trotz ihrer im Vergleich zur USA stabiler und attraktiver wirkenden heutigen Demokratie – die jahrhundertelange Erprobung bei der Überwindung innerer wie äußerer Hindernisse und Krisen.