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Tunesien
Tunesien: Game of Thrones bei den Präsidentschaftswahlen

Am Sonntag beginnt in Tunesien der Wahlmarathon

Am Sonntag beginnt der tunesische Wahlmarathon mit der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen. Es gilt als sicher, dass es im ersten Wahlgang kein Kandidat schaffen wird, die Mehrheit der Stimmen auf sich zu ziehen. Vor dem zweiten Wahlgang im November finden am 6. Oktober die Parlamentswahlen statt. 

Die Tunesier vergleichen ihre Politik bisweilen gern etwas spöttisch mit der US-amerikanischen Fantasy-Serie „Game of Thrones“, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es sehr viele Akteure gab, von denen praktisch jeder zu jedem Zeitpunkt aus dem Rennen um die Macht scheiden konnte. Jeder Akteur sprach von legitimer Herrschaft, um die Interessen des Volkes ging es eher nebensächlich. 

An dem Vergleich ist zumindest etwas Wahres dran: Am Sonntag haben die Tunesierinnen und Tunesier die Wahl zwischen 26 Kandidaten, darunter zwei Frauen. Hier den Überblick zu behalten ist nicht leicht. Immerhin fanden erstmals in einem arabischen Land Fernsehdebatten statt, die von praktisch allen Sendern übertragen wurden, damit sich die Bürger ein Bild von den Kandidatinnen und Kandidaten machen konnten. Alles was in der politischen Szene Tunesiens Rang und Namen hat kandidiert für den Posten des Präsidenten. Dies verwundert auf den ersten Blick, da die eigentliche Macht beim Parlament und dem Ministerpräsidenten liegt. Das Präsidentenamt genießt zwar hohes Ansehen im Land, ist in punkto Macht aber eigentlich nur zweite Wahl. 

Geplant war der Wahlkalender im Herbst diesen Jahres auch anders. Zuerst sollte die Parlamentswahl stattfinden, dann die Präsidentschaftswahl. Doch der Tod des Präsidenten Béji Caïd Essebsi am 25. Juli machte eine neue Rechnung auf. Die Verfassung fordert zeitnahe Neuwahlen, und es ist ein Sieg für die demokratische Struktur des Landes, dass sich alle Akteure daran hielten, auch wenn mit dem Verfassungsgerichtshof der letzte Entscheider noch gar nicht eingerichtet ist, um im Zweifelsfall eingreifen zu können. 

Hier kommt nun ein weiterer Aspekt der tunesischen Politik, und vielleicht auch Gesellschaft zum Tragen: man diskutiert vor allem über Personen, weniger über Programme. Dabei hat das Land eine programmatische Diskussion, wohin es in den kommenden Jahren gehen soll, eigentlich bitter nötig. Der Reformprozess stockt an allen Enden, und nur der boomende Tourismus des Sommers hat der leidenden Wirtschaft eine Atempause verschafft. Die Schlussfolgerung eines jeden Politikers aus dieser Situation ist jedenfalls, dass man sich prominent an den Präsidentschaftswahlen beteiligen muss, um daraus Momentum ziehen zu können für die drei Wochen später stattfindenden Parlamentswahlen. Diese sind eigentlich viel wichtiger, aber über die spricht momentan niemand so richtig. Dies kann man den Bürgern nicht wirklich verübeln. In den 33 Wahlkreisen gibt es jeweils dutzende Kandidaten, viele davon noch recht neu in der Politik. Die Parteien haben noch keine so ausgeprägte Identität wie in Deutschland, so dass es nicht leicht fällt, sich eine Meinung zu bilden.

Zurück zur Präsidentschaftswahl mit seinen Kandidaten: Auch hier lässt sich noch einmal der Vergleich mit „Game of Thrones“ ziehen. Der aktuell aussichtsreichste Kandidat, Nabil Karoui, ein Medienmogul, dem der größte private Sender des Landes gehört, sitzt im Moment in Untersuchungshaft. Ihm wird Steuerhinterziehung und Geldwäsche vorgeworfen. Der derzeitige Premierminister Youssef Chahed hat sich mit einer Partei überworfen und eine neue gründen lassen. Seine Zukunft als Chef der Regierung ist mehr als unsicher. Daher rührt wohl auch seine Motivation zu kandidieren. Die Islamisten, oder Islamodemokraten, wie sie sich jüngst bezeichnen, stellen erstmals einen Präsidentschaftskandidaten, Abdelfattah Mourrou. Vorher verzichteten sie jeweils aus taktischen Gründen auf eine Kandidatur. Eine der zwei Frauen, Abir Moussi, gilt als Vertreterin des Lagers von Ex-Diktator Ben Ali, den die tunesische Revolution 2011 aus dem Land jagte. Sie profitiert davon, dass viele Tunesier von der politischen Klasse und auch von der Entwicklung der Wirtschaft enttäuscht sind. Moussi steht für eine „Früher war alles besser“ Perspektive. Die Partei des verstorbenen Präsidenten Nidaa Tunis unterstützt zusammen mit der liberalen Partei Afek Tounes Verteidigungsminister Abdelkarim Zbidi. Er könnte, je nach Ausgang des ersten Wahlganges der Konsenskandidat des bürgerlichen Lagers werden, sollte es zu einer Stichwahl mit Mourrou kommen. Chancen hat aber auch Kais Saied, ein Juraprofessor, der sich als unabhängiger Kandidat präsentiert und jüngst in Umfragen aufholte. Es gilt als wahrscheinlich, dass die zwei Kandidaten, die es in die Stichwahl schaffen werden, aus der Gruppe dieser sechs Personen kommt. Aber wie gesagt, es gibt noch 20 weitere Kandidaten.

Überhaupt, die kurz angesprochene Dichotomie von bürgerlichem Lager versus Islamisten, die der treibende Faktor während der Wahlen in 2014 war, scheint sich in Tunesien gerade aufzulösen. Der Populismus, von dem keines der beiden Lager profitieren kann, hat ebenso Einzug in die tunesische Politik gehalten wie in anderen Ländern der Erde. Es dominieren Schlagworte vor Argumenten. Unabhängig davon, wer Präsident wird, werden die Parlamentswahlen höchstwahrscheinlich ein sehr fragmentiertes Bild hinterlassen. Die Regierungsbildung wird dementsprechend schwer werden. Die Tunesier tun also gut daran, sich direkt am Montag mit den Programmen der Kandidaten für das Parlament zu beschäftigen. Denn die aktuell nötigen Reformen und Gesetze, die Einsetzung des Verfassungsgerichtshofes, die Ankurbelung der Wirtschaft, all dies wird vom Parlament ausgehen müssen. Der Präsident kann dies nur unterstützen.

Update:

Erste Runde der Präsidentschaftswahlen ohne Sieger – Juraprofessor gegen Medienmogul in Tunesien


Laut Umfragen am Wahlabend kommen der 61-jährige Juraprofessor Kais Saied sowie der Medienmogul Nabil Karoui in die Stichwahl um das Präsidentenamt, die am 4. November stattfinden wird. Das offizielle Wahlergebnis wird jedoch erst in den kommenden Tagen erwartet.

Die Wahlbeteiligung lag laut der Wahlbehörde ISIE bei 45 Prozent und damit deutlich niedriger als bei der letzten Präsidentschaftswahl in 2014 (64 Prozent). Besonders die Wahlbeteiligung junger Menschen scheint vergleichsweise gering gewesen zu sein. 

Der als unabhängiger Kandidat angetretene Karoui lag während des Wahlkampfs in Umfragen lange vorn, Saied holte aber stetig auf und scheint nun in der ersten Runde Karoui überholt zu haben. Karoui ist nach wie vor inhaftiert, da ihm Steuerhinterziehung und Geldwäsche vorgeworfen werden. 

Laut Umfragen am Wahltag hat Saied vor allem bei jungen Wählern und Gebildeten gepunktet, während Karoui bei Älteren und Menschen mit geringem Bildungsgrad vorn liegt.

 

Alexander Rieper ist Projektleiter Tunesien und Libyen mit Sitz in Tunis.

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