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Grundrechte
Tag des Grundgesetzes

Zur Wandlungsfähigkeit der deutschen Verfassung
C. Schmid bei Unterzeichnung Grundgesetz Gruendung der Bundesrepublik Deutschland

C. Schmid bei Unterzeichnung Grundgesetz Gruendung der Bundesrepublik Deutschland: Unterzeichnung des vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 verabschiedeten Grundgesetzes im Gebaeude der Paed. Hochschule in Bonn

© Prof. Carlo Schmid (SPD) bei der Unterzeichnung; li. Hermann Puender, Peter Altmeier, Leo Wohleb und Hans Ehard.

Der wohl populärste und wichtigste Gesetzestext Deutschlands, hat Geburtstag – am 23. Mai ist wieder Tag des Grundgesetzes. Es wurden schon viele Lobeshymnen auf das Grundgesetz gesungen: mal steht die erfolgreiche Redemokratisierung Deutschlands und der Bruch mit der NS-Zeit im Vordergrund, mal der erfolgreiche Export von Verfassungstext sowie Auslegungsgrundsätzen unseres Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in die Länder dieser Welt - die Liste der Vorzüge ist lang.

Ein weiterer Erfolg ist die Sprache des Grundgesetzes. Klar und schnörkellos kommt sie daher, in den meisten der 146 Artikel findet sich kein Wort zu viel. Das hat natürlich eine Funktion, denn obwohl das Grundgesetz zunächst als Provisorium angelegt war, ist sein Wesenskern auf Dauerhaftigkeit angelegt. Im besonderen Maße gilt das für die Grundrechte in den ersten 19 Artikeln, dem berühmtesten Abschnitt der Verfassung. Erst durch die Abstraktheit der gewählten Worte wird das Grundgesetz zu einem zeitlosen Text und kann auf Szenarien der Zukunft und Umbrüche in der Welt reagieren, die seine Erschaffer 1948/ 1949 noch nicht vorhersehen konnten. So lassen sich zum Beispiel Fragestellungen wie die Verfassungsmäßigkeit der Ehe für alle oder der Vorratsdatenspeicherung anhand des schon 74 Jahre alten Textes problemlos diskutieren. Die Unterordnung solch neuer Gegebenheiten unter den Verfassungstext („Subsumtion“ genannt) stellt heute einen wichtigen Bestandteil der Arbeit der Richterinnen und Richter am BVerfG dar.

Grundrechte als Abwehrrechte des Einzelnen

Bei aller Euphorie über die Schönheit, Schlichtheit und Zeitlosigkeit des Grundgesetzes: Kehrseite eines derart offen gestalteten Textes, der auch auf möglichst viele unvorhergesehene Fälle anwendbar sein möchte, ist gleichzeitig eine gewisse Anfälligkeit für zeitgeistige Strömungen. Besonders deutlich zeigt sich dies bei den Interpretationen der Grundrechte durch das BVerfG. Ursprünglich sah der Parlamentarische Rat vor, die Grundrechte als Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen Eingriffe des Staates in ihre persönlichen Freiheiten auszugestalten. In seinem ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch 1975 entwickelte das BVerfG eine neue Dimension der Grundrechte, die sogenannten Schutzpflichten. Eine Konstellation, durch die das BVerfG dem Gesetzgeber aufgeben kann, eine Regelung zu erlassen, gerade damit die Grundrechte geschützt werden (in diesem Beispiel: die Rechte des Ungeborenen). In den letzten Jahren wurde diese Dimension immer häufiger angenommen oder zumindest in den Vordergrund gerückt – ob bei der Frage, wie ein Triage-Gesetz aussehen könnte (das BVerfG betonte, dass dabei auch den Rechten der Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden müsste), oder dem Problem, wie Schutz vor dem unbefugten Zugang Dritter zu informationstechnischen Systemen gewährleistet werden kann. In dem viel diskutierten Klimaurteil des BVerfG aus dem Jahre 2021 könnte das Gericht nun eine dritte Dimension von Grundrechten entwickelt haben. Es bejahte die Verletzung der Grundrechte in ihrer Dimension als intertemporale Freiheitssicherung im Leitsatz 4 der Entscheidung (vgl. hier und hier) und gab dem Gesetzgeber dadurch auf, bessere Klimaschutzvorkehrungen zu treffen. Das BVerfG nahm an, die Freiheitsgrundrechte der Beschwerdeführenden seien schon deshalb verletzt, weil heute unzureichende Klimaschutzmaßnahmen nach 2030 zu drastischen Einschränkungen führen könnten. Hierbei wurden Grundrechte nicht - wie üblich - konkret miteinander abgewogen, sondern es wurde pauschal mit in der Zukunft verletzten Freiheitsrechten argumentiert. Dass das BVerfG diese Figur zukünftig nochmal heranziehen wird, um auch in anderen Bereichen bessere, „generationengerechtere“ Regelungen zu erzwingen, erscheint denkbar.

Gründe für diese Entwicklung sind sicherlich vielfältig: eine komplexere Welt, in der der Staat für viele nicht mehr die größte Bedrohung der Freiheit darstellt, sondern diese Rolle von beispielsweise großen Unternehmen oder Umweltkatastrophen eingenommen wird, ist dabei nur ein Aspekt. Die Entwicklung ist allerdings nicht unkritisch zu sehen – denn anders als in der klassischen Abwehrrechtsdogmatik der Grundrechte, bei der das BVerfG auf eine schon getroffene Entscheidung des Gesetzgebers oder der Exekutive reagiert, agiert es mit der Annahme dieser neuen Dimensionen immer häufiger im Vorfeld der eigentlichen Arbeit der Politik. Gestützt wird all das selbstverständlich auf das Grundgesetz. Gerade in Hinblick auf die Legitimation des Gerichts ist diese Tendenz aber nicht unproblematisch – denn die Richterinnen und Richter werden keinesfalls vom Volk gewählt, sondern von Bundestag und Bundesrat benannt und sind deshalb nur mittelbar demokratisch legitimiert. Zudem müssen sie keine Konsequenzen ihres (mitunter politischen) Handelns tragen.

Wandlungsfähigkeit ohne Beliebigkeit

Verfassungstexte beinhalten also nie nur eine juristische Dimension, sondern immer auch eine politische und kulturelle. Daran sollte man aber nicht verzweifeln – denn nichtsdestotrotz hält das Grundgesetz - neben den vielen Regelungen des Staatsorganisationsrechts, die weit weniger gerichtlichen Interpretationsspielraum bieten und das Funktionieren eines demokratischen Staates gewährleisten - einen für unser Zusammenleben unabdingbaren Wertekanon bereit. Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Deutschland und vielen anderen Ländern nun mal politisches Handeln begleitet und kontrolliert, verhilft letztendlich dem Mitgedacht-Werden und der Durchsetzbarkeit der Verfassung im politischen Geschäft (vgl. Dieter Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, Berlin 2021, S. 91). Selbsterklärte illiberale Demokratien, wie etwa Ungarn (und teilweise das auf dem Weg dorthin befindliche Polen) beginnen nicht ohne Grund zumeist damit, ihre Verfassungsgerichtsbarkeit zu demontieren. Oder nach eigener Lesart so zu reformieren, dass sie nicht nur der Verfassung, sondern auch einem vermuteten Volkswillen entsprechen. Dies zeigt, dass die Verfassung immer nur so gut wie die Gesellschaft und ihre Institutionen ist, die den Verfassungstext mit Leben füllen. Wandlungsfähigkeit ohne Beliebigkeit zeichnet daher das Grundgesetz als offenen Verfassungstext aus, der einen guten Rahmen für die stetige Weiterentwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft in einer sich dauernd im Umbruch befindenden Welt bietet.