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Jahrestag
Stresemann und der Ruhrkampf

Wie macht man aus einer Machtfrage eine Wirtschaftsfrage?
Gustav Stresemann (Mitte) am 16. Oktober 1925.

Gustav Stresemann (Mitte) am 16. Oktober 1925.

© picture-alliance / dpa | dpa

Die Reichstagsdebatte im „Ruhrkampf“

Vom 16. bis 18. April 1923 führte der Reichstag eine ausführliche Debatte. Formal ging es um die zweite Lesung des Haushalts für 1923 und dort um den Etat des Auswärtigen Amtes; faktisch hatte sich die Debatte jedoch schnell davon entfernt und diskutierte das Thema dieser Zeit: den „Ruhrkampf“. Ausgelöst war er durch die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische (und einige wenige belgische) Truppen, und zum „Kampf“ war er durch den Aufruf der Reichsregierung zum passiven Widerstand - und das heißt: zur Verweigerung jedes französischen Befehls - geworden. Dahinter stand (auch in der Debatte) die große Frage, die fast die gesamte Weimarer Republik durchzog: die Frage der von Deutschland gemäß dem Versailler Vertrag zu zahlenden Reparationen.

Die Reichsregierung bestand seit dem November 1922 aus einem Minderheitskabinett, als „Kabinett der Wirtschaft“ apostrophiert und auch von einem parteilosen Mann aus der Wirtschaft, Wilhelm Cuno, zuvor Generaldirektor der Reederei und Schifffahrtslinie HAPAG, als Reichskanzler geführt. Unter seiner Kanzlerschaft hatte die Reichsregierung im November 1922 einen Antrag gestellt, ihre Reparationsverpflichtungen aufzuschieben, was der französische Ministerpräsident Poincaré prompt zunächst mit der Drohung zur Besetzung des Ruhrgebiets beantwortete, damals die wichtigste deutsche Industrieregion. Seine Begründung war, dass Frankreich sich dann die Kohle, um die es in erster Linie ging, selbst holen müsse. Nach einigen erfolglosen Verhandlungen unter den Alliierten besorgte er sich von der Reparationskommission, in der er zusammen mit Belgien über die Mehrheit verfügte, gegen die Stimme Großbritanniens die Zustimmung zu seinem Plan und ließ am 11. Januar die Truppen einmarschieren.

Stresemanns Rede

Die Debatte eröffnete am 16. April mit Frederic von Rosenberg der Außenminister, der vor seiner Ernennung als Karrierediplomat gearbeitet hatte. Ihm folgten die Vertreter der größeren Fraktionen und schließlich am zweiten Tag der Debatte, am 17. April, auch Gustav Stresemann, Partei- und Fraktionsvorsitzender der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei sowie Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Reichstags. Nach einer pflichtschuldigen Bekundung, dass er und seine Fraktion der Rede des Außenministers vom Vortag zustimmen würden, ging es ihm im Folgenden zunächst weniger um Poincaré und die französische Politik, die seine Vorredner in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen und Kritik gestellt hatten, sondern um eine grundsätzliche Erklärung, wie die Reparationsfrage angegangen werden müsse. Dabei gestand er Frankreich durchaus einen Anspruch auf Wiedergutmachung für den Aufbau der zerstörten Gebiete zu, die aber eben nicht alleine von Deutschland geleistet werden könne. Die Höhe der deutschen Zahlungen und Lieferungen könne nämlich nicht nur nach französischem Gutdünken und aufgrund einer abstrakten Festsetzung bemessen werden. Vielmehr müsse sie von der deutschen Zahlungsfähigkeit ausgehen, die ein Gremium internationaler Fachmänner feststellen müsse und die anschließend durch eine internationale Anleihe sicherzustellen sei. Er verwendete bei dieser Argumentation, die an sich nicht neu war und die auch einzelne Vorredner nebenbei erwähnt hatten, geschickt englischsprachige und anschließend auf deutsch paraphrasierte Zitate des konservativen britischen Premierministers Andrew Bonar Law, der einen entsprechenden Vorschlag im Winter 1922/23 unterbreitet hatte, um die französische Ruhrbesetzung zu verhindern und Bewegung in die Reparationsfrage zu bringen. Wenn es der französischen Regierung tatsächlich nur um die wirtschaftlichen Belange gehe, so Stresemann, sei dies der einzige Weg, um aus der Reparationsfrage eben eine wirtschaftliche statt einer Machtfrage zu machen.

Seine Adressaten

Natürlich richtete sich Stresemanns Rede vordergründig an den Reichstag und die interessierte deutsche Öffentlichkeit: Reichstagsreden wurden damals in der breiten Zeitungslandschaft oft im Wortlaut abgedruckt. In der Argumentation war aber der Adressat in erster Linie England und deswegen auch die Berufung auf Bonar Law: In deutschen Regierungskreisen hoffte man immer noch, dass London ganz deutlich von seinem Kriegspartner Frankreich und dessen Ruhrgebietskurs abrücken würde. Das war an sich nicht abwegig: Solange Deutschland in Reaktion auf den Ruhreinmarsch die Lieferung jeglicher Reparationen ausgesetzt hatte, erhielt auch England seinen Anteil nicht. London hatte aber selbst erhebliche Schulden zu tilgen, nämlich Rückzahlungen für die Kredite, die die USA dem Inselreich während des Weltkrieges gewährt hatten. Über deren Rückzahlungen war gerade ein in England sehr strittiges Abkommen geschlossen worden, zu dessen Erfüllung London auf die deutschen Zahlungen angewiesen war (wie übrigens auch Frankreich ein Großschuldner der USA war und daher nicht einfach auf deutsche Leistungen verzichten konnte). Zudem führte Stresemann Großbritannien in seiner Rede vor Augen, dass es nur dann seine Stellung als Welthandelsmacht in der Zeit vor dem Weltkrieg wieder ansatzweise einnehmen könne, wenn seine Handelsflotte in erheblichem Umfang deutsche Waren transportieren würde - und die würden ausfallen, solange die deutsche Wirtschaft infolge der französischen Politik am Boden liege.

Und schließlich gab es noch einen Elefanten im Raum, den Stresemann überhaupt nicht ansprach, den aber mancher seiner Zuhörer und Leser mitgedacht haben dürfte: die USA. Dort, in Washington, wo man sich zwar machtpolitisch, aber keinesfalls wirtschaftspolitisch vom alten Kontinent zurückgezogen hatte, suchte man als nun zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufgestiegene Nation dringend Absatzmärke für die eigene Industrieproduktion und für das reich vorhandene Kapital. Für beides benötigte man ein befriedetes Europa, in dem nicht mit Gewaltpolitik wirtschaftliche Unruhe und Schwächung eines der potentiell wichtigsten Exportländer, nämlich Deutschlands, betrieben wurden.

Die Zukunftsperspektive

Bedingungen für mögliche Verhandlungen formulierte Stresemann dann allerdings doch noch: Frankreich müsse zunächst diejenigen Deutschen, die interniert oder zu Gefängnisstrafen verurteilt seien, ebenso wieder freilassen, wie es den mit rüden Methoden ausgewiesenen Beamten samt ihren Familien die Rückkehr in die Heimat erlauben müsse. Und überhaupt müsse Poincarés Behauptung zutreffen, dass es ihm ausschließlich um wirtschaftliche Zwecke gehe und Frankreich keine weiterreichenden politischen Ziele verfolge, etwa die Unterstützung des Separatismus im Rheinland mit dem Ziel der Abspaltung des linksrheinischen Gebietes vom Reich.

An Letzteres, nämlich an das Fehlen politischer Motive aufseiten Frankreichs, mag Stresemann selbst nicht geglaubt haben. Aber auch hier offerierte er eine Lösung: Wenn Frankreich aus Angst vor einem Wiedererstarken Deutschlands jenes kleinhalten wolle, so könne man diese Angst doch durch internationale wirtschaftliche Kooperation beilegen, wie überhaupt größere internationale Wirtschaftsgemeinschaften das Gebot der Stunde seien.

Seine Hoffnungen beruhten zu dieser Zeit aber sicher eher auf Großbritannien und den USA, die Frankreich mit politischem und wirtschaftlichem Druck zur Räson bringen sollten. Wenn man über das Jahr 1923 hinausschaut, sieht man genau das, was 1924 gemäß Stresemanns Ausführungen eintraf: England und die USA zwangen Frankreich an den Verhandlungstisch, und mit dem Dawes-Plan vom Sommer 1924 wurde die Reparationsfrage in dem von ihm skizzierten Sinne insgesamt (zwischen-)gelöst. Und die internationale Kooperation, die er ansprach, kam 1925 tatsächlich in Gang. Unabhängig davon war seine Rede vom April 1923 aber auch eine Art Bewerbungsansprache: Stresemann galt inzwischen als möglicher Kanzlerkandidat, und in einer Rede darzulegen, dass man über eine konsistente Lösung für die akute Krise der Reparationsfrage verfüge, konnte da nicht schaden. „Stürmischer Beifall und Händeklatschen, auch auf den Tribünen“, wie das Protokoll abschließend vermerkt, waren sicher Zeichen dafür, dass seine Rede „angekommen“ war.