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Pisa-Studie
Sind deutsche Schüler doof?

Schüler in Klassenzimmer
© picture alliance/dpa | Bernd Weißbrod

Sind deutsche Schüler doof? So titelte der SPIEGEL im Dezember 2001, als die erste PISA-Studie veröffentlicht wurde. Damals war Deutschland geschockt, dass die eigenen Kinder und Jugendlichen in den Bereichen Lesen, Mathematik und in den Naturwissenschaften dem Rest der OECD hinterherhingen. Geschockt – im Sinne einer plötzlichen Überraschung – ist heute dagegen niemand, obwohl die Ergebnisse der neuesten PISA-Studie sogar noch vernichtender sind. Noch nie schlossen deutsche Schülerinnen und Schüler so schlecht ab – und zwar über alle Bereiche hinweg. Ihnen allein die Schuld zu geben, wäre allerdings alles andere als fair, hierfür muss man allerdings auf die tieferen Ursachen blicken.

Desolate Ergebnisse

Das Ziel der repräsentativen Studie ist es, die Fähigkeiten der 15-jährigen Schülerschaft in den Bereichen Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen abzubilden, wobei ersterer in diesem Jahr den Schwerpunkt bildete. In Deutschland wird die Untersuchung vom Zentrum für internationale Bildungsvergleichsstudien durchgeführt, wozu die TUM, das Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF) und das Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) gehören. In den Tests werden die Leistungen der Schülerinnen und Schüler dann sechs Kompetenzstufen zugeordnet, welche eine internationale Vergleichbarkeit gewährleisten.

Die Aufgaben waren dabei durchaus an der Lebensrealität orientiert. So mussten die Getesteten beispielsweise angeben, welche Rechenoperation geeignet wäre, um aus einer Tabelle, die die Bevölkerungszahl und die jeweilige Anzahl an Smartphonenutzern enthält, den jeweiligen Anteil zu berechnen. Auch die Aufgaben zur Mustererkennung und zum logischen Denken sollten eigentlich für jeden leicht zu bewältigen sein, der gerade seine Pflichtschulzeit beendet: so sollte beispielsweise ein Fliesenmuster erweitert werden, indem einzelne Ziegel entsprechend angeordnet werden. Auch die finanzielle Bildung spielte eine Rolle: in einer Ersparnissimulation sollten die Getesteten beispielsweise Aussagen zu Zins und Zinseszins treffen. Die Hoffnung, man könnte die schlechten Ergebnisse damit wegerklären, dass die Aufgaben vergeistigt und realitätsfern seien: Das geht eindeutig nicht.

Umso schlimmer ist es dann, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler reihenweise gescheitert sind. So schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie:

Rund ein Drittel der 15-Jährigen hat in mindestens einem der drei getesteten Felder nur diese sehr geringen Kompetenzen. Circa jeder sechste Jugendliche hat in allen drei Bereichen deutliche Defizite. Die Anteile dieser besonders leistungsschwachen Jugendlichen sind seit 2018 größer geworden und betragen in Mathematik rund 30 Prozent, im Lesen rund 26 Prozent und in den Naturwissenschaften rund 23 Prozent.

„Auf der anderen Seite des Spektrums“, so die Zusammenfassung, befänden sich die besonders starken Schülerinnen und Schüler, deren Anteil allerdings in den Bereichen Mathematik und Lesen deutlich gesunken sei.  

Der kranke Mann Europas

Als die Ergebnisse der ersten PISA-Studie veröffentlicht worden waren, war die deutsche Fußballnationalmannschaft gerade in der Gruppenphase der Europameisterschaft ausgeschieden, die Wirtschaftsdaten stimmten pessimistisch und der islamistische Terror von Al-Quaida bestimmte die Nachrichten. Es ist wenig überraschend, dass die ersten Medien bereits Vergleiche zur Lage von vor zwanzig Jahren ziehen. Nachdem die Ergebnisse bis ungefähr 2010 schrittweise immer besser wurden, fielen sie seitdem immer weiter ab, bis sie nun wieder auf „Schock-Niveau“ liegen. Der deutsche Bildungstrend: er zeigt bereits seit den Merkel-Jahren rapide nach unten.

Was sind die Ursachen? Hierzu liefert die Bildungsforschung bereits seit Jahren umfangreiches Material. Auch diesmal ist guter Rat nicht teuer. Die Coronapandemie, Sprachschwierigkeiten aber auch längerfristige Trends in den Bereichen Interesse und Motivation klingen zweifelsohne plausibel. Hinzu kommt eine Überforderung der Schulen, die nicht nur vor einem eklatanten Lehrkräftemangel stehen, sondern auch immer mehr Aufgaben übernehmen müssen – von der Inklusion, über die digitale Transformation bis hin zu immer mehr Bürokratie.

Rendezvous mit der Wirklichkeit

Im Kontrast zur Größe der Aufgaben sind die Empfehlungen der Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher eher zögerlich. Systematische Diagnose und Förderung, die kontinuierliche Weiterentwicklung des Unterrichts und eine bedarfsorientierte Ressourcenzuwendung – dies sind sicherlich alles gute Forderungen, die zum Teil ja auch mit dem neuen Startchancenprogramm umgesetzt werden. Es ist allerdings fraglich, ob damit die tieferen Ursachen der neuesten Bildungskatastrophe bewältigt werden.

Bei Anne Will erklärte der Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck vor Kurzem, wir seien „umzingelt von Wirklichkeit.“ Die Wirklichkeit hat man in Deutschland – nicht zum ersten Mal – jahrzehntelang gekonnt ausgeblendet und mit Geld übertüncht, das nun immer weniger wird. An erster Stelle stehen dabei die Veränderungen innerhalb des Klassenzimmers selbst: eine steigende Schülerzahl, die immer heterogener wird, stellt völlig neue Anforderungen an das Bildungssystem. Hinzu kommen Wünsche, die von Eltern und der Politik an die Schulen herangetragen werden, aber kaum durch entsprechende Ressourcen gestützt wurden. Neben der Inklusion gehört dazu natürlich auch der Wunsch nach immer besseren Noten und höheren Schulabschlüssen – die Noten- und Abschlussinflation weist hier eine ganz ähnliche Dynamik auf, wie die Entwicklung der Geldmenge. Es ist sehr einfach – und äußerst verlockend – für jeden Kultusminister, sich jedes Jahr Kohorten von Einserabiturienten zu „drucken“, denn man muss ja nur die Anforderungen immer weiter senken. Auch hier ist die PISA-Studie ein Rendezvous mit der Wirklichkeit.

Schlüsselfaktor Elternhaus

Die Parallelen zu 2001 sind frappierend – und dennoch können sie in die Irre führen. Während es damals durchaus naheliegend schien, die Probleme vor allem im Schulsystem zu suchen, ist dies heutzutage alles andere als offensichtlich. So hat Axel Plünnecke bereits im Rahmen des INSM-Bildungsmonitors 2023 darauf hingewiesen, dass auch die „langfristigen Veränderungen des häuslichen Inputs“ in den Blick genommen werden sollten, denn Bildung findet natürlich nicht nur in der Schule statt. Hier zeigte sich bereits, dass beispielsweise der Anteil der Grundschulkinder mit weniger als 100 Büchern im Elternhaus zwischen 2011 (60,8 Prozent) und 2021 (69.1 Prozent) signifikant gestiegen sei. Bedenkt man, dass die Zahl der Bücher im Elternhaus nach wie vor der beste Prädiktor für schulischen Erfolg ist, bekommt man vielleicht bereits eine Ahnung, was eigentlich in den letzten fünfzehn Jahren schiefgelaufen ist.

Die Begriffe „Humankapital“, „Bildungskapital“ oder „kulturelles Kapitel“ klingen nach kältestem Kapitalismus, der die Bildung junger Menschen nur unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Verwertbarkeit betrachtet. Doch eigentlich handelt es sich dabei ursprünglich um eher linke Konzepte, mit denen Ungleichheiten im Bildungssystem deutlich gemacht werden sollten. Die Grundthese: in der Schule herrscht keineswegs „Chancengleichheit“, denn das Elternhaus entscheidet nicht nur über das finanzielle Kapital, sondern auch über den Umfang des „Bildungskapitals“. Anders gesagt: wenn man Bildungstrends deuten will, darf man nicht nur auf die tatsächliche Leistungsentwicklung blicken, sondern man muss auch sozioökonomische Trends berücksichtigen.

Beispiel „Zuwanderungshintergrund“: es ist ein Fetisch (nicht nur) der deutschen Debatte, den Faktor Migrationshintergrund durch fast jede Analyse zu schleppen. Die Korrelation zwischen Migrationshintergrund und sozialem Hintergrund wird dabei aber nur selten berücksichtigt – dort, wo dies geschieht, merkt man schnell, dass der Migrationshintergrund manchmal sogar ein Vorteil sein kann, und Kinder mit entsprechendem Hintergrund besser abschneiden. Überraschend ist dies eigentlich nicht: Deutsch als Fremdsprache ist natürlich eine Hürde, sie lässt sich aber mit entsprechendem Kapital leicht überwinden. Und dann gilt natürlich: Die iranische Professorentochter sticht eigentlich alle aus, denn die Eltern haben das Bildungssystem ja bereits einmal „durchgespielt“.

Aber es gilt das Gesetz der großen Zahlen, und hierzu schreiben die Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher der neuesten PISA-Studie:

In Deutschland sowie in nahezu allen ausgewiesenen Staaten aus West-, Süd-, Nord und Osteuropa weisen Eltern von Jugendlichen mit einem Zuwanderungshintergrund einen niedrigeren sozioökonomischen beruflichen Status auf als Eltern von Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund. Dieser Unterschied ist in Deutschland neben Belgien, Österreich und Italien besonders groß.

Wie Studienleiterin Doris Lewalter beton, erklärt dies die Gesamtergebnisse aber nur teilweise, denn: „Die mathematischen Kompetenzen der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund sind im Vergleich zu 2012 ebenfalls geringer geworden – sogar deutlicher als bei den Jugendlichen, deren Eltern zugewandert, die aber selbst in Deutschland geboren sind.“

Was tun?

Die Zeit, als Probleme mit Gelddrucken gelöst werden konnten, ist vorbei, denn die Inflation ist plötzlich im Geldbeutel angekommen. Auch die Noteninflation hat nun zu einem bösen Erwachen geführt: nur, weil immer mehr Schülerinnen und Schüler aufs Gymnasium gehen, ist das Bildungssystem nicht besser geworden. Auch ein Ausbildungsbetrieb hat nichts von Schulabgängern, die zwar gute Noten, aber nicht mal Grundkompetenzen in den Bereichen Lesen und Mathematik vorweisen können.

 Ein erster Schritt zu einem besseren Bildungssystem ist also eine kontinuierliche Konfrontation mit der Realität, beispielsweise mit Tests und Prüfungen, die ihren Namen auch verdienen- IQB, PISA, VERA und Co. sollten weiter gestärkt werden und verpflichtend durchgeführt werden. Auch Abschlussprüfungen sollten weiter standardisiert werden. Hinzu kommen verpflichtende Sprachtests – lange vor dem Schuleintritt, verbunden mit entsprechenden Förderkonzepten. Als nächstes braucht es eine bundesländerübergreifende Strategie gegen Lehrkräftemangel und eine genauere Allokation von Ressourcen, wie sie das Startchancenprogramm beispielsweise vorsieht. Entscheidend wird aber vor allem die Entlastung der Schulen sein – Lehrkräfte sollten sich wieder auf ihre pädagogischen Kernaufgaben konzentrieren können. Hierzu braucht es eine kluge Sozialpolitik und multiprofessionelle Teams – und mehr Expertise, wie das Potenzial von Schülerinnen und Schülern gehoben werden kann, die aus sozial schwachen Elternhäusern stammen. Freiabi für alle kann dabei keine Lösung sein.