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Kolumne
Sanktionen wirken auf lange Sicht

Russlands Wirtschaft lässt sich nicht kurzfristig in die Knie zwingen. Aber sie nimmt langfristig schweren Schaden.
picture alliance/dpa/TASS | Vyacheslav Prokofyev
© picture alliance/dpa/TASS | Vyacheslav Prokofyev

Vor einem Jahr begann Russland einen aggressiven Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ein brutaler Bruch des Völkerrechts, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Der Westen reagierte mit einem breiten Spektrum von Sanktionen. Sie reichten von Beschränklungen des Zugangs an den internationalen Finanzmärkten über realwirtschaftliche Maßnahmen des Importboykotts und der Exportverbote bis hin zu dem Abzug von privaten Investoren und Produzenten aus Russland in Eigeninitiative. Sieht man von den Sanktionen gegenüber dem Iran ab, war es das breiteste Paket von Boykottinitiativen, das seit Jahren implementiert wurde – ganz anders als nach der russischen Eroberung der Krim 2014, als sich die Maßnahmen im Wesentlichen auf Nadelstiche beschränkten und im Übrigen die energiestrategische Zusammenarbeit auf Basis der Pipelines Nordstream 1 und der Planungen für Nordstream 2 unverändert weiterliefen.

Die Resilienz der russischen Wirtschaft

Viele fachkundige Beobachter glaubten, die Sanktionspakete 2022 würden sofort eine drastische Schrumpfung der russischen Wirtschaft in Gang setzen. Die Rede war von einem Minus von 10 Prozent (Weltbank) und 11,7 Prozent (European Bank of Reconstruction and Development). Die Realität sah dann ganz anders aus. Glaubt man The Economist, so weisen die neuesten Zahlen auf eine Schrumpfung im Jahr 2022 von 2,3 Prozent hin, zuletzt (3. Quartal 2022) 3,7 Prozent. Der kurzfristige Effekt der Sanktionen war also weit weniger drastisch als erwartet.

Warum? Die Antwort liegt in der Resilienz der russischen Wirtschaft, kombiniert mit entsprechenden finanz- und realpolitischen Initiativen der Regierung Putin. So wurde von russischer Seite sofort der internationale Kapitalverkehr beschränkt, was die Abwertung des Rubels in Grenzen hielt. Realwirtschaftlich sorgte – kaum überraschend – der Boom der Öl- und Gaspreise für eine Abfederung des boykottbedingten Einbruchs der Mengen, der durch alternative Kunden aus Nicht-Boykottländern in Grenzen gehalten wurde. Schließlich sorgte das Verschwinden vieler westlicher Luxusprodukte aus den Regalen zwar für den wohlhabenderen russischen Mittelstand für eine Verschlechterung der Lebensqualität, aber es fanden sich – wenn auch qualitativ schlechtere – Ersatzwaren aus heimischer oder zumindest nicht-westlicher Produktion, was die Wirkung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Grenzen hielt.Tatsächlich waren die viel zu hochgesteckten Erwartungen an die Sanktionswirkungen recht naiv. Niemand kann ein riesiges Land mit enormem Ressourcenreichtum durch Abschneiden vom Außenhandel schnell mal in die Knie zwingen.

Sind deshalb die Sanktionen sinnlos?

Die Antwort lautet: keineswegs! Sanktionen wirken langfristig – fast ist man geneigt zu sagen: Sie wirken nur langfristig. Der Grund: Sie verschließen den Weg zu einer weiteren Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung und machen diese, wo sie besteht, an neuralgischen Punkten auf Dauer zunichte. Ganz offensichtlich ist dies an den globalen Finanzmärkten: massive Kapitalverkehrskontrollen mögen kurzfristige Einbrüche vermeiden helfen, aber sie sorgen für eine Isolierung des Landes von externen Impulsen. Im Fall Russlands ist es eine Art Rückfall in die altsowjetische Welt des nicht-konvertiblen Rubel – mit wachstumsschädlichen Rückwirkungen, wie wir sie allerdings auch im Sowjetsozialismus Osteuropas (und der DDR) erst nach Jahrzehnten beobachten konnten. Auf Dauer wirken sie wie ein schleichendes Gift der Ineffizienz, weil sie die interne Marktwirtschaft, soweit noch vorhanden, künstlich abschirmen.

Ähnliches gilt für die Realwirtschaft. Fehlende Importe von westlicher Hochtechnologie werden die Wertschöpfungsketten der russischen Industrie im schlimmsten Fall zerstören, im Normalfall einen beträchtlichen Teil ihrer Produktivität und Innovationskraft kosten. Der Export von Rohstoffen wird weitergehen, aber eben nicht in den Westen, sondern in Länder, die doch als Handelspartner an Qualitätsware weniger zu bieten haben, was selbst für China gilt. Es entsteht eine Art globale „second class“-Arbeitsteilung – mit Russland als Teilnehmer, der aus der „first class“ Arbeitsteilung des Westens ausgeschlossen wurde.

Am Wichtigsten ist allerdings langfristig die Wirkung auf die globalen Kapital- und Arbeitsmärkte. Die nächste Generation von Direktinvestitionen westlicher Firmen wird Russland systematisch umgehen. „Friendshoring“ der Produktion tritt an die Stelle des „Offshoring“ nach Russland. Schon jetzt ist dies an den Investitionsplänen großer westlicher Firmen abzulesen, zum Teil auch bedingt durch den Reputationsverlust, der mit einem Verbleib in Russland verbunden ist.

Noch schlimmer ist die Signalwirkung für gut ausgebildete Menschen in Russland. In einem zunehmend isolierten Land der „second class“-Arbeitsteilung werden junge dynamische Arbeitskräfte, Gründer und Unternehmer nicht bleiben wollen. Es wird einen „Brain Drain“ der neuen globalisierten Generation geben. Der kann schnell Ausmaße annehmen wie in der DDR der fünfziger Jahre, denn heute gibt es längst eine große englischsprechende urbane Elite in Russland, die sich nach Westen orientiert und wohl kaum durch einen „eisernen Vorhang“ davon abgehalten werden kann, in den Westen auszuwandern. Und dort wird sie mit offenen Armen begrüßt, weil die demografische Entwicklung für einen riesigen Bedarf an Arbeitskräften sorgen wird.

Sanktionen wirken, aber eben erst nach Jahren und Jahrzehnten

Fazit: Sanktionen wirken, aber eben erst nach Jahren und Jahrzehnten. Gerade deshalb müssen sie mit Geduld aufrechterhalten werden. Wladimir Putin führt eben nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine, sondern auch gegen die Zukunft Russlands. Man kann nur hoffen, dass eine neue Generation von Russen dies erkennt und nach Putin zu Vernunft und Völkerrecht zurückkehrt. Bis dahin brauchen wir alle einen langen Atem.