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Krieg in Europa
Russlands neue Realität

Sanktionen und Kriegswirtschaft
Der russische Präsident Wladimir Putin

Der russische Präsident Wladimir Putin

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Konstantin Zavrazhin

Wirtschaftlich depressive Lage

Russland verzeichnet bereits seit Jahren nur geringe wirtschaftliche Zuwachsraten. Grund sind  fehlende Strukturreformen, eine ausufernde Bürokratie und Korruption, zunehmende staatliche Übergriffe und Eingriffe in Marktmechanismen, fehlende Investitionen in moderne Industrien bei entsprechender  fehlender Diversifizierung bei gleichzeitiger Ausrichtung vorrangig auf Rohstoffgewinnung und Rohstoffrenten. Das Land ist außerordentlich stark von der Nachfrage und den Weltmarktpreisen für seine Hauptexportgüter – Erdöl- und Erdgas und Produkte daraus (60% aller russischen Exporte) - sowie vom internationalen Zugang und der Einfuhr von Spitzentechnologien für alle Zweige seiner Volkswirtschaft abhängig. Im sozialen Bereich hat der Lebensstandard der russischen Bürgerinnen und Bürger in den letzten zehn Jahren stagniert oder ist gesunken, und die Defizite im Gesundheits- und Bildungssystem sowie im Umweltbereich haben drastisch zugenommen.

Nach offiziellen russischen Angaben sind 50% der Objekte in der Kommunalwirtschaft, 30% der kritischen Infrastruktur und 30% des Maschinenparks in Industrie und Landwirtschaft völlig abgenutzt und müssen ersetzt werden. Externe Schocks - wie der Ausbruch der Corona-Pandemie und der damit verbundene weltweite Handels- und Wirtschaftseinbruch - haben die bereits vorhandenen Probleme weiter verschärft.  

Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und dem Beginn der kriegerischen Handlungen Russlands im Donbass wurden von den westlichen Staaten Sanktionen eingeführt, die trotz ihrer Begrenztheit bereits eine Zäsur für die russische Wirtschaft bedeuteten. Seit 2015 haben mehr als 70% der in Russland tätigen Unternehmen mit ausländischen Eigentümern das Land und den Markt verlassen; dabei ist der Anteil deutscher Unternehmen um 68% zurückgegangen, der Anteil chinesischer Unternehmen um 79%, türkischer Unternehmen um 81% und indischer Unternehmen um 87%.

Putin hat seine Rechnung ohne die Sanktionspakete gemacht

Seit dem Beginn des offenen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 wurden von den westlichen Staaten, darunter von der EU, insgesamt acht Sanktionspakete verabschiedet, die noch spürbarer zu einem faktischen Handels-und Wirtschaftsembargo führten. So haben inzwischen über tausend Weltmarktführer, die nach Berechnungen der Yale-Universität mit 40% zum russischen BIP in 2021 beigetragen und ca. 1 Mio. russische Bürger beschäftigt hatten, den russischen Markt verlassen. Besonders spürbar sind die Sanktionen im Rohstoffbereich durch das stufenweise Einfuhrverbot von russischen Kohle-, Öl- und Gaslieferungen, für die Europa bislang der größte Abnehmer war.

Alternative Abnehmer wie China und Indien haben, einerseits, die prekäre Lage Russlands ausgenutzt und die Preise für Ölimporte drastisch nach unten gedrückt; andererseits können im Gasbereich die russischen Exporte nach Europa auf Jahre hinaus nicht durch asiatische Käufer ersetzt werden - mangels fehlender und langfristig aufzubauender Infrastrukturen. Die fehlenden westlichen Technologieimporte sind bereits jetzt in allen Bereichen von Industrie, Landwirtschaft und Dienstleistungen spürbar. So sank allein die Automobilproduktion durch den Rückzug der großen westlichen Autokonzerne um 64% von März bis August 2022. Russische PKW der Marke Lada werden mittlerweile ohne Airbags und ABS für den Inlandsmarkt hergestellt. Ganze Maschinen der Landtechnik werden zur fehlenden Ersatzteilgewinnung für kaputte Erntetechnik verwendet.

Die russische zivile Luftflotte bestand zu 75% aus Maschinen westlicher Bauart, die ebenfalls den Sanktionen unterliegen. Russland hat nur einen geringen Teil der geleasten Maschinen zurückgegeben und den Rest unter russische Jurisdiktion gestellt, jedoch ohne Zugang zu Ersatzteilen und Wartung. Von daher werden in absehbarer Zeit nicht mehr die notwendigen Sicherheitsbestimmungen eingehalten werden können. Auch hier können nicht alle Maschinen weiterbetrieben werden, sondern müssen zur Ersatzteilgewinnung dienen. Der Aufbau einer eigenständigen russischen Luftfahrtindustrie ist geplant, wird jedoch weder kurz- noch mittelfristig umgesetzt werden können. Ein geplantes Gemeinschaftsprojekt im Flugzeugbau mit China scheiterte daran, dass China westliche Technologien einbauen wollte, Russland dies aber verweigerte.       

Die russische Führung versucht mit verschiedenen Maßnahmen, die Sanktionen zu kompensieren, um den Zugang zu dringend benötigten Technologien für die Herstellung von Konsum- und Industriegütern sowie von Kriegsgerät, weiter abzusichern. Dazu wurde u.a. im März  die Einfuhr von Parallelimporten (Grauimporten) legalisiert. Das bedeutet, das vom Westen sanktionierte Originalwaren ohne Zustimmung des Markeninhabers (Rechtsinhabers) legal nach Russland eingeführt und vertrieben werden dürfen. Entsprechend wurden von den russischen Behörden für die Parallelimporte insbesondere Erzeugnisse der Fahrzeug-, Schiffs-, Bergbau-, Landwirtschaft und Energiewirtschaft sowie Computertechnik gelistet. Viele Drittländer befürchten jedoch die Anwendung von Sekundärsanktionen und lassen diese Parallelexporte aus ihren Staaten nicht zu. Damit können die Sanktionen weder durch die Parallelimporte noch durch die eigene unterentwickelte Produktion von Spitzentechnologien abgefangen werden.  

Einführung einer Kriegswirtschaft

Die Auswirkungen der Finanzsanktionen mit dem fehlenden Zugriff der Russischen Zentralbank auf die Hälfte der russischen Währungsreserven in Höhe von ca.  300 Mrd. US-Dollar., der Ausschluss der russischen Banken vom SWIFT-System sowie die Nichtakzeptanz russischer Kreditkarten im Ausland haben ebenfalls drastische Auswirkungen auf die Abwicklung der internationalen Handelsbeziehungen Russlands, die Steuerung des Rubel-Kurses durch die Zentralbank sowie auf die Zahlungsmöglichkeiten russischer Bürger im Ausland. Selbst mit Russland verbündete (z.B. Kirgisistan) oder verbundene Länder (Türkei und China) akzeptieren russische alternative Zahlungs-und Kreditkartensysteme wie das „Mir“ System neuerdings nicht (mehr).    

Die technologischen und Kapazitätsdefizite der russischen Wirtschaft haben direkte Auswirkungen auch auf die Produktion von für den andauernden Krieg gegen die Ukraine benötigten Rüstungsgütern. Um dem entgegenzuwirken, war die russische Führung im Sommer dieses Jahres gezwungen, faktisch die Einführung einer Kriegswirtschaft zu beschließen, bei der Produktion und Dienstleistungen aller Art sowie Personal für das Militär absoluten Vorrang vor der zivilen Produktion und dem zivilen Personaleinsatz haben und alles der Rüstungswirtschaft unterzuordnen ist. Kürzlich wurden zur Umsetzung der Kriegswirtschaft, die offiziell als „Mobilisierungswirtschaft“ bezeichnet wird, weitreichende administrative Maßnahmen beschlossen. Dazu gehört u.a. die Einsetzung eines „Koordinationsrates“, der auf Regierungsebene mit gleichberechtigter Besetzung von zivilen Ministern und Militärs die materielle, finanzielle und personelle Ausstattung der Armee absichern soll. Insgesamt bedeutet dies, dass die Militarisierung und Defizite der ausschließlich staatlich gelenkten russischen Volkswirtschaft,  weiter verschärft werden.

Der Krieg gegen die Ukraine hat weitere schwere Belastungen für die russische Wirtschaft hervorgebracht. Gleich nach Kriegsausbruch haben Hundertausende Russinnen und Russen das Land verlassen und sind ins Exil gegangen. Diese Massenflucht hat sich nach Ausrufung der Teilmobilisierung am 21.September 2022 noch einmal enorm erhöht. Nach internationalen Schätzungen sind etwa 700.000 russische Bürgerinnen und Bürger ins Ausland verzogen. Zusammen mit den offiziell mobilisierten 300.000 Männern im arbeitsfähigen Alter sind damit bis zu eine  Million qualifizierter Arbeitskräfte der russischen Wirtschaft  abhandengekommen, für die es keinen Ersatz gibt.

Im Ergebnis wird für das laufende Jahr von der russischen Regierung ein Rückgang des Bruttosozialprodukts um 4-5%, eine Inflationsrate von 12-13%, eine niedrige Arbeitslosenquote, jedoch weiterer Kaufkraftverlust und damit eine auch im Jahr 2023 anhaltende Rezession prognostiziert. Ob sich diese vorläufige Prognose bewahrheiten wird, bleibt noch abzuwarten.