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Russland
Memorial: Angriff auf die russische Zivilgesellschaft

Memorial Russland
Polizisten halten einen Demonstranten vor dem Obersten Gerichtshof in Moskau fest. © picture alliance/dpa/TASS | Gavriil Grigorov

Die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands „Memorial International“ soll aufgelöst werden. Die heutige Entscheidung des Obersten Gerichts der Russischen Föderation zur Zwangsauflösung wegen angeblicher Verstöße gegen das „Agentengesetz“ markiert einen Tiefpunkt für die Menschenrechtsarbeit weltweit. 

„Memorial International“, das war mehr als ein leuchtender Name für die Menschenrechtsarbeit aus Russland für Russland. Die älteste Menschrechts- und Bürgerrechtsorganisation Russlands ist ein weltweites Vorbild für eine ehrliche und transparente Menschenrechtsarbeit. Seit mehr als dreißig Jahren setzten sich unzählige Menschen- und Bürgerrechtler für die historische Aufarbeitung der Gewaltherrschaft Stalins und des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion ein. Sie machten Menschenrechtsverletzungen durch konkrete Namen, Gesichter und Biographien sichtbar. Eine zentrale Lehre, die aus dem sowjetischen Totalitarismus gezogen wurde: Menschen- und Bürgerrechte sollten für ausnahmslos jedes Mitglied der Gesellschaft gelten. Memorial forderte dies regelmäßig ein.

Seit 2016 ist Memorial als „ausländischer Agent“ gelistet. Im Auftrag fremder Mächte bedrohen diese nach Lesart des Kreml ein ansonsten friedliches, stabiles und auf der Weltbühne aufstrebendes Russland. Schon in der Sowjetära bediente die Machtzentrale in Moskau den Mythos, allein äußere Feinde behinderten die Entwicklung des Landes und versuchten, es klein zu halten. In Zeiten, in denen die sowjetische Geschichte mehr und mehr verklärt wird, rief „Memorial“ der russischen Gesellschaft derartige Parallelen immer wieder ins Bewusstsein.

Durch die Liquidation der größten zivilgesellschaftlichen Organisation nimmt der Kreml der russischen Gesellschaft nicht weniger als die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Es handelt sich nicht allein um einen Angriff auf die Zivilgesellschaft, die in ihrem Kampf für Demokratie und Bürgerrechte einmal mehr zum Verstummen gebracht wird, sondern auf die russische Gesellschaft als Ganzes. Ohne Memorial, die mit ihrer Arbeit dem Russland Putins beharrlich den Spiegel vor Augen hielt, wird sie künftig noch unfähiger sein, zu reflektieren und sich aus ihrer Unfreiheit zu befreien. 

Das Vorgehen der russischen Regierung zeigt abermals, dass der Kreml unter Wladimir Putin nicht zu Rechtsstaatlichkeit und der Einhaltung von Bürgerrechten und des Völkerrechts zurückkehren wird. Russland ist allerdings internationale Verpflichtungen und Verträge eingegangen, die seit Jahren konsequent gebrochen werden. Auf dieser Grundlage sind weder ein Dialog „auf Augenhöhe“, wie ihn Moskau einfordert, noch eine strategische Partnerschaft möglich.

Die auf liberalen Grundwerten fußende Europäische Union kann nicht untätig zusehen, wenn in anderen europäischen Staaten ganzen Gesellschaften das Recht genommen wird, sich weiterzuentwickeln. Es ist schlimm genug, dass Grundwerte auch in einigen EU-Mitgliedstaaten beständig unter Druck geraten. Doch es ist eine Errungenschaft der EU, dass sich Unionsbürgerinnen und -bürger auch in diesen Ländern jederzeit auf ihre europäisch verbrieften Rechte berufen können.

Aus diesen sowohl aus der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch der EU-Grundrechtecharta verbrieften Rechten leitet sich die politische Pflicht ab, den eigenen Werten auch Taten folgen zu lassen. Partikularinteressen von Mitgliedstaaten dürfen eine konzertierte Haltung der EU nicht blockieren. Die Bundesregierung muss in Brüssel durch kluge Konsensbildung dafür Sorge tragen, dass interne Konflikte nicht länger die Entschluss- und Handlungsfähigkeit der Union nach außen beschränken.

Die Wirtschaftskraft unseres hochintegrierten Raumes wird in der internationalen Politik nur Gewicht entfalten, wenn wir gemeinsam zu wertebasierten Entscheidungen in der Lage sind. Daher muss von Seiten der EU konsequent die Einhaltung der internationalen Verpflichtungen von Russland, gerade auch im Menschenrechtsbereich, eingefordert werden, und die EU selbst muss ihr Handeln daran messen. Nur mit einer fundierten Wertebasis kann der realpolitische Anspruch, als globaler Akteur wahr- und ernstgenommen zu werden, ohne militärische Muskelspiele untermauert werden.

Zumindest zwei Koalitionspartner vertraten in der Vergangenheit eine klare, wertegebundene Haltung gegenüber einem immer autokratischer handelnden Russland. Wenn nun einer ganzen Gesellschaft die Urteilsfähigkeit genommen werden soll, muss das jede Europäerin und jeden Europäer berühren. Es gibt zwei Parteien, die sich dem aus Überzeugung entgegenstellen. Sie müssen sich nun auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass die Europäische Union ihren Werten auch Taten folgen lässt.