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Fußball-WM
„Ich bin mehr als enttäuscht“

Anne Brasseur im Interview mit Télécran
FIFA
© picture alliance / AA | Mohammed Dabbous

Martina Folscheid (Télécran): Frau Brasseur, Sie haben vor vier Jahren dem Europarat den Bericht „Good football governance“ (Gute Unterneh­mensführung im Fußball, Anm. d. R.) präsentiert. Wie kam es dazu?
Anne Brasseur: Ich war im Europarat Mitglied des Ausschusses für Kultur, Bildung und Sport. Dieser hatte schon mal Berichte über Fußball erstellt, zum Beispiel über Hooligans in den Fußballstadien. Und ich war bereits 2012 Berichterstatterin über das „Match-Fixing“, also Wettbetrug. Im Kontext der Korruptionsaffäre der Fifa 2015 in Zürich, bei der es zur Abwahl von Sepp Blatter und anschließend zur Wahl von Gianni Infantino kam, ergab sich, dass der Europarat – zuständig für Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit – einen Bericht über gute Unternehmensführung im Fußball erstellen sollte. Aufgrund meiner Vorkenntnisse wurde ich als Berichterstatterin ausgewählt.

Wie gingen Sie dann vor?
Ich war gut vernetzt mit Investigativ­journalisten von Le Monde, Spiegel und der Süddeutschen Zeitung. Und ich hatte Kontakte zu Personen aus dem Ethik­rat der Fifa, die von Gianni Infantino entlassen worden waren, sodass ich über Insiderwissen verfügte. Zusätz­lich kannte ich Professor Mark Pieth, ein Schweizer Rechtswissenschaftler und Antikorruptionsexperte, der schon unter der Präsidentschaft von Blatter mit einem Gutachten zur Reform der Strukturen der Fifa beauftragt worden war. Auch hatte ich Kontakte zu der Uefa.

Diese Personen trafen Sie dann alle?
Ja, um mir anzuschauen, was schon getan und was umgesetzt wurde. Auf­grund von all diesen Erkenntnissen habe ich meinen Bericht erstellt. Ich schickte ihn im Vorfeld an die Fifa, um mit ihr die Fakten zu überprüfen. Ich wurde daraufhin von Präsident Gianni Infantino und Generalsekretärin Fatma Samoura empfangen, die Sitzung dauerte insgesamt drei Stunden. Infantino hatte sich jede Stelle angekreuzt, mit der er nicht einverstanden war. Ich fragte ihn an jeder dieser Stellen, ob die Fakten nicht korrekt seien. Er antwortete mir: „Doch, aber die Schlussfolgerung, die Sie daraus ziehen, stimmt nicht.“ Ich sagte ihm, dass es mein Bericht sei, nicht seiner. Am Schluss vereinbarten wir, dass vier seiner Experten nach Straß­burg kommen sollten, um den Bericht, an dem ich nach unserer Sitzung noch ein paar Dinge änderte, nochmal mit mir durchzugehen. Dann gab ich den Bericht in den Ausschuss und er wurde dort angenommen.

Dann versuchte die Fifa den Bericht nochmals zu behindern...
Vor der Plenarsitzung im Januar 2018 schickte die Fifa einen Brief an die nationalen Delegationen, sie sollten meinen Bericht nicht annehmen, denn er würde nur auf Gerüchten basieren. Während der Sitzungswoche waren zwei Abgesandte der Fifa in Straßburg, um Kontakt mit den nationalen Delegationen aufzunehmen. Aber es nützte nichts. Der Bericht mit der Resolution wurde mit großer Mehrheit angenommen. Fünf Mitglieder stimmten dagegen, vier von ihnen stammten aus Aserbaid­schan. Das hatte aber wohl mit meiner mehr als kritischen Haltung gegenüber Aserbaidschan zu tun, weniger mit Fuß­ball, nehme ich an. Und ein Schweizer stimmte dagegen, der hatte mal für die Fifa gearbeitet.

Sie erhielten also viel Druck seitens der Fifa. Aber gab es auch Drohungen?
Nein, die gab es nicht. Ich habe nur gehört, man hätte sich auch für mein Privatleben interessiert. Bestätigen kann ich das nicht, aber es wurde mir zugetragen. Aber bedroht fühlte ich mich nie.

Kommentar von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

Stellv. Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

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Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Fifa in Sachen „Good governance“ seitdem?
Also die Reformvorschläge von Professor Pieth hatte Sepp Blatter teilweise ver­sucht umzusetzen, das muss man ihm zugute halten bei allem Negativen. Ein sehr wichtiges Beispiel war die Trennung an der Spitze der Fifa: Einerseits sollte der Präsident die Politik bestimmen und die Fifa nach außen vertreten. Und das tägliche Mikro-Management sollte ein Generalsekretär ausführen. Dann wählte Gianni Infantino Fatma Samoura als Generalsekretärin aus, was ich anfangs für eine sehr gute Idee hielt, weil es sich um eine Frau handelt, die aus dem Senegal stammt und die zuvor als Diplomatin bei der UNO gearbeitet hatte. Ihr Profil gefiel mir, es verhieß frischen Wind. Sehr schnell sollte sich jedoch herausstellen, dass es sich nur um eine Fassade handelte. Sie bezieht ein hohes Gehalt, scheint aber vom tagtäglichen Management ausgeschlossen zu sein. Infantino ist nach wie vor Alleinherrscher, die Trennung an der Managementspitze ist nie vollzogen worden.

Auf dem vierten Compliance-Gipfel der Fifa im September dieses Jahres in Costa Rica sprach Gianni Infantino davon, dass die Fifa einige sehr wich­tige Grundsätze der guten Unterneh­mensführung eingeführt habe – die neue Fifa sei eine glaubwürdige, ver­trauenswürdige Organisation. Klingt das wie Hohn in Ihren Ohren?
Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, kann ich da nur Johann Wolfgang von Goethe zitieren. Es gab diese Ethikkommission, doch 2017 wurden die Chefkontrolleure, Cornel Borbély und Hans-Joachim Eckert ent­lassen, ausgerechnet die beiden, die in puncto Aufklärung sehr ordentli­che Arbeit geleistet hatten. Sie wurden ersetzt, Eckert als Vorsitzender der recht-sprechenden Kammer der Ethikkommis­sion durch Vassilios Skouris, ehemaliger Präsident des Europäischen Gerichtshofs. Neue Vorsitzende der Ermittlungskam­mer der Ethikkommission wurde die Kolumbianerin Maria Claudia Rojas, vormals Richterin und Dozentin für Ver­fassungsrecht in Kolumbien. Sie sprach nur Spanisch, offizielle Sprachen der Fifa sind aber Englisch und Französisch. Und die meisten Akten, auch diese Untersuchung sind in diesen beiden Sprachen verfasst. Ich weiß also nicht, wie es funktionieren soll, wenn in einer Organisation, in der es zwei offizielle Sprachen gibt, eine der Hauptfiguren gegen Korruption dieser Sprachen nicht mächtig ist. Sie hat mir zwar gesagt, sie würde es verstehen, aber ich habe mich mit ihr unterhalten, sie verstand zu dem Zeitpunkt weder Französisch noch Englisch. Hinzu kam noch, dass sie eine freundschaftliche Beziehung zum früheren Fußball-Verbandschef Kolumbiens, Luis Bedoya, hatte, der anschließend wegen Korruption im Gefängnis landete. Das gibt einem kein gutes Gefühl.

Glauben Sie überhaupt an eine grundlegende Reformfähigkeit der Fifa?
Es handelt sich meiner Meinung nach um ein systemisches Problem. Das heißt, die Mitglieder, die dem Council, dem obersten Gremium des Verbandes angehören, verdienen ordentlich Geld. Sie bekommen 350 000 Dollar, Euro oder Schweizer Franken – das spielt eigentlich gar keine Rolle –, pro Jahr, für drei Sitzungen. Und sie werden natürlich in Luxushotels untergebracht, erhalten zusätzlich Spesen, reisen zu Veranstaltungen, werden dort hofiert. Sie wollen den Ast ja nicht absägen, auf dem sie sitzen. Darum sind sie auch mit allem einverstanden. Gianni Infantino kündigte ja schon bei der Kandidatur für seine erste Amtszeit an, dass es mit ihm mehr Geld für die Vereine, mehr Geld für dies und jenes gebe. Es dreht sich alles um Geld. Natürlich stimmen die Personen mit „Ja“, die sehen, dass ihr Verband mit mehr Geld, mehr Infra­strukturen ausgestattet wird. Ich zitiere den ersten Satz meines Berichtes: Zu wenig Geld schadet dem Fußball, zu viel Geld macht den Fußball kaputt.

Sie klingen sehr pessimistisch...
Ich glaube, der Reformansatz von Sepp Blatter war an und für sich nicht schlecht, aber er wird einfach nicht so umgesetzt. Generell muss man diese sportlichen Mammutveranstaltungen in Frage stellen. In vielen Städten, die sich bewerben wollen, ist die Bevölkerung dagegen, weil das Event unglaublich viel kostet und sie keinen direkten Nutzen für die Stadt oder die Region sieht. Genau deshalb finden solche Sportveranstaltungen dann in Baku in Aserbaidschan oder in den Emiraten statt. Das muss einem doch zu denken geben. Wir müssen uns insgesamt von diesen Megaevents und diesem Gigantismus abkehren. Das gilt auch für das Internationale Olympische Komitee.

Sind Sie Fifa-Präsident Gianni Infantino jemals wieder begegnet?
Nein.

Was würden Sie ihm sagen, wenn Sie ihm jetzt begegnen würden?
Ja, dann würde ich mit ihm reden. Ich habe ja auch mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew oder mit Recep Tayyip Erdoğan geredet, obwohl ich beide in Berichten nicht geschont habe.

Aber gibt es eine bestimmte Botschaft, die Sie ihm gern ins Gesicht sagen würden?
Dass ich mehr als enttäuscht bin von ihm.

Was sagen Sie als jemand, der sich sein gesamtes politisches Leben lang für Menschenrechte eingesetzt hat, zur derzeitigen Situation in Katar?
Es ist eine Katastrophe, aber das wusste man schon im Vorfeld. Es sieht ja wirk­lich danach aus, dass die Stimmen bei der Wahl des WM-Austragungsortes gekauft wurden. Wenn man sich die Rolle betrachtet, die Frankreich mit dem ehemaligen Uefa-Präsidenten Michel Platini und Ex-Präsident Nicolas Sarkozy spielte, hat man mehr als ein schlechtes Gefühl. Nun hört man häufig das Argu­ment, in einem Land wie Katar komme es zu Verbesserungen zum Beispiel im Hinblick auf den Arbeitsschutz, weil genauer hingeschaut wird. Aber man sollte keine Wunder erwarten.

Sie glauben nicht an eine positive Entwicklung im Hinblick auf Normen?
Denken Sie an die Olympischen Winter­spiele in Sotschi 2014 oder die Som­merspiele 2008 in Peking, wo es auch hieß, man käme sich durch solch ein verbindendes Großereignis näher. In der Realität lief es in die entgegengesetzte Richtung. Ich glaube, es ist ein Trug­schluss, davon auszugehen, dass sich in einem Land Normen in eine positive Richtung entwickeln, nur weil so ein Großevent dort veranstaltet wird. Man sieht, dass das leider nicht funktioniert.

Es ist dann also nur ein vorübergehendes Phänomen?
Na ja, ob es überhaupt vorübergehend ist, wage ich zu bezweifeln, wenn ich mir anschaue, was auf den Baustellen los war in Katar. Es ist nicht mal vorübergehend. Ich könnte mir vorstellen, dass es ohne den Blick von außen noch schlimmer gewesen wäre, aber wenn man sich unter anderem betrachtet, wie die Wanderarbeiter untergebracht waren...

Sind Sie dafür, die Fußball- Weltmeisterschaft zu boykottieren?
Nein. Das nützt überhaupt nichts. Ich finde, die Sportler selbst sind ja an dem Ganzen nicht schuld. Gut, wir reden hier von hochbezahlten Profis. Dennoch vertrete ich die Ansicht, dass man die WM nicht boykottieren sollte. Es gibt Menschen, die sich die Turniere nicht im Fernsehen anschauen wollen. Das kann jeder machen, wie er möchte. Allerdings bin ich der Meinung, dass Politiker nicht hingehen sollten. Also wenn ich irgendeine Funktion hätte und eingeladen würde, würde ich der Einladung nicht folgen. Hochrangige Politiker sollen dies mit den nationalen Verbänden klären, dass ihr Boykott sich nicht gegen die nationale Mannschaft richtet. Aber man muss doch ein State­ment setzen! Der Sport wird vor Ort ausgetragen, aber den Sport sollte man von dem Besuch von Politikern trennen. Der Präsident des Internationalen Olym­pischen Komitees, sollte er eingeladen werden, sollte nicht hingehen.

Frau Brasseur, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Dieses Interview erschien erstmals im Télécran, Woche 46, 12.11.-18.11.2022.

Anne Brasseur ist frühere Ministerin für Erziehung, Berufsausbildung und Sport des Großherzogtums Luxemburg und leitete von 2014 bis 2016 als Präsidentin die Parlamentarische Versammlung des Europarates. Seit dem 16. September 2022 ist sie Mitglied des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.