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Internationale Politik
Historischer NATO-Gipfel in Madrid

Eine neue Ära transatlantischer Sicherheitspolitik
Scholz und Erdogan

Bundeskanzler Scholz und Präsident Erdogan beim NATO-Gipfeltreffen in Madrid.

© picture alliance/dpa | Bernd von Jutrczenka

Ein umfassendes Unterstützungspaket wurde für die Ukraine und „partner at risk“ – insbesondere Moldawien, Georgien und Bosnien und Herzegowina – beschlossen. Außerdem wurde die Erweiterung um zwei weitere Mitglieder, Schweden und Finnland, formal angekündigt – bemerkenswert vor allem deswegen, weil der türkische Präsident Erdogan noch bis zum Gipfel selber nicht hat durchblicken lassen, ob er sein Veto gegen eine entsprechende Mitgliedschaft geltend machen wird. Hier eine kurze Einschätzung zu den auf dem NATO-Gipfel neu beschlossenen Leitlinien des Bündnisses.

NATO-Erweiterung

Am Dienstagabend verkündeten Schweden, Finnland und die Türkei, die nun auf allen Dokumenten mit neuem Namen „Türkiye“ gelistet ist, in einem trilateralen Memorandum, man habe sich geeinigt: die Türkei unterstützt nachdrücklich die Politik der Offenen Tür der NATO und explizit das Beitrittsgesuch der beiden nordischen Länder. Bis zu Beginn des Gipfels war unklar, wie die Verhandlungen zwischen den drei Ländern unter Schirmherrschaft des NATO-Generalsekretärs verlaufen würden. Das von Präsident Erdogan vorgebrachte Veto hatte die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestärkte Einigkeit innerhalb der NATO in den letzten Wochen deutlich in Frage gestellt.

Wie von dem FNF Büro Istanbul analysiert ging es neben Zugeständnissen in Bezug auf nationale Sicherheitsinteressen und der Verfolgung und Einstufung terroristischer Organisationen auch um Verhandlungen mit US Präsident Biden. Ersteres spiegelt sich deutlich im Memorandum wieder, zu zweitem scheint es eine Vereinbarung hinsichtlich amerikanischer F-16 Kampfjets zu geben. Der Verkauf amerikanischer Rüstungsgüter an die Türkei hatte seit der Beschaffung des russischen Luftabwehrsystem S400 pausiert. Nun signalisieren beide Seiten einen neuen Austausch. Offiziell ist die Vereinbarung zwischen Finnland, Schweden und der Türkei und der Austausch zwischen US Präsident Biden und dem türkischen Präsidenten Erdogan unabhängig voneinander zu betrachten, de facto sind die türkisch-amerikanischen Beziehungen für das Abstimmungsverhalten innerhalb der NATO gewiss nicht unerheblich.

Ein Beitritt Finnlands und Schwedens in die NATO hat bedeutende sicherheitspolitische Auswirkungen. Beide Länder gelten als militärisch sehr gut aufgestellt und haben über die letzten dreißig Jahre bereits eng mit dem Transatlantischen Bündnis zusammengearbeitet. Der Beitritt würde die kollektive Verteidigungsfähigkeit signifikant erhöhen. Gleichzeitig vergrößert sich die NATO-Grenze zu Russland um mehr als das Doppelte. Im neuen Strategischen Konzept wurde diese Grenze als „größte Bedrohung der NATO“ eingestuft. 

Das neue Strategische Konzept: Sicherheitspolitische Neuausrichtung

Obwohl die Diskussionen über den Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO im Vorfeld des Gipfels die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen, ist das neue Strategische Konzept der NATO das eigentliche Kernstück. Dies ist das wichtigste strategische Dokument des Bündnisses, das normalerweise alle zehn Jahre aktualisiert wird. Die letzte Fassung stammt daher auch aus dem Jahr 2010. Seitdem hat sich die transatlantische Sicherheitslandschaft erheblich verändert: höchste Zeit für eine Aktualisierung. Nach einem langwierigen Prozess haben die NATO-Regierungschefs am Mittwoch, den 29. Juni, das Strategische Konzept verabschiedet.

Russland ist die größte Bedrohung

Das Dokument rückt Russland in den Mittelpunkt der Bedrohungsanalyse der NATO. Während Russland im Strategischen Konzept von 2010 noch als „strategischer Partner" bezeichnet wurde, wird es in der neuen Ausgabe als die „bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der NATO" bezeichnet. Diese Verschiebung ist vor allem auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine zurückzuführen. Es wird auf die umfassendere Bedrohung hingewiesen, die von Moskaus Bemühungen um die Modernisierung seines Atomwaffenarsenals ausgehen. Auch Russlands Verstöße gegen die Rüstungskontrollverpflichtungen und die Versuche , die Länder an der Ost- und Südflanke der NATO zu destabilisieren, werden genannt.

China in Sichtweite

Ein weiterer bemerkenswerter neuer Aspekt im strategischen Umfeld der NATO ist China. Zum ersten Mal erkennt die NATO an, dass Chinas „erklärte Ambitionen und Zwangsmaßnahmen unsere Interessen, unsere Sicherheit und unsere Werte herausfordern". Neben der militärischen Aufrüstung sind die chinesischen Bemühungen um die Kontrolle von Schlüsseltechnologien und Industriesektoren ein Kernelement in diesem Zusammenhang. Indem es seinen wirtschaftlichen Einfluss geltend macht, versucht Peking strategische Abhängigkeiten zu schaffen.

Verteidigungsstrategie

Um der neuen Bedrohungslage in Europa zu begegnen, hat die NATO mehrere Pläne zur Anpassung ihres Verteidigungsverhaltens veröffentlicht. Die unmittelbarste Maßnahme ist der Plan, die Zahl der NATO-Truppen in „hoher Bereitschaft“ auf mehr als 300.000 zu erhöhen. Darüber hinaus wird der Schwerpunkt verstärkt auf Cybersicherheit und -verteidigung gelegt, wozu auch eine engere Zusammenarbeit mit dem Privatsektor gehört. In vielen Bereichen ist auch eine engere Zusammenarbeit mit der EU zu erwarten, die die NATO nun als „einzigartigen und unverzichtbaren Partner" betrachtet.

NATO-Unterstützung für die Ukraine

Zusätzlich zu den neuen Verteidigungsmaßnahmen haben die NATO-Staats- und Regierungschefs auch ein neues Unterstützungspaket für die Ukraine angenommen. Das Hilfspaket beinhaltet Unterstützung in wichtigen Bereichen, wie gesicherte Kommunikation, Anti-Drohnen-Systeme und Treibstoff. Außerdem soll die Ukraine längerfristig dabei unterstützt werden, den Übergang von militärischer Ausrüstung aus der Sowjetzeit zu moderner NATO-Ausrüstung zu bewältigen. Ähnliche Unterstützungspakete wurden auch für andere bedrohte Partner wie Bosnien und Herzegowina, Georgien und die Republik Moldau angekündigt.

Mit neuen Mitgliedern, neuen strategischen Ausrichtungen und neuen Initiativen setzte der Gipfel ein deutliches Zeichen der transatlantischen Einheit und Solidarität. Durch die Anerkennung des sich wandelnden transatlantischen Sicherheitsumfelds und das Aufzeigen neuer Wege zur Bewältigung der gegenwärtigen Bedrohungen hat die NATO gezeigt, dass sie anpassungsfähig, geeint und zukunftsfähig ist.

 

Hier finden Sie die strategische Konzeption der NATO.

18 Juli
18.07.2022 18:00 Uhr
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Gewaltige Anziehungskraft

NATO

In Madrid haben sich die Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Staaten auf einen Kurswechsel für das Militärbündnis geeinigt. Die Türkei hat ihre Blockade gegen den Beitritt Schwedens und Finnlands beigelegt. Jetzt muss die NATO ein klares Ziel vor Augen haben und nicht nur die technische Zusammenarbeit verfolgen, analysiert Guri Melby, Vorsitzende der liberalen Partei Norwegens.

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