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„Hans“ und „George“ kümmern ihn nicht

Präsident Erdoğan wird den Ausnahmezustand in der Türkei erneut verlängern
Türkei

Die Türkei entfernt sich immer weiter von der Rechtsstaatlichkeit

© GettyImages/ ilkaydede

Medienberichten zufolge wird der Ausnahmezustand in der Türkei in diesen Tagen erneut für drei Monate verlängert. Dazu wird – gemäß der Verfassung – der Nationale Sicherheitsrat unter dem Vorsitz des Präsidenten die Verlängerung empfehlen, das Kabinett unter dem Vorsitz des Präsidenten diese beschließen. Das ist ebenso reine Formsache wie das dann noch ausstehende (positive) Votum des Parlaments. Während des Ausnahmezustandes sind die Grundrechte weitgehend eingeschränkt. Präsident Erdoğan regiert per Dekret – selbst vor dem Verfassungsgericht nicht anfechtbar. Die Verlängerung wird bedeuten, dass sich die Türkei bald schon seit zwei Jahren im Ausnahmezustand befindet. Opposition, Menschenrechtler und die Europäische Union fordern schon lange, diesem Zustand ein Ende zu setzen. Präsident Erdoğan hatte den Ausnahmezustand am 20. Juli 2016, nur fünf Tage nach dem vereitelten Putschversuch, verhängt, um rigoros gegen „Aufrührer, Umstürzler und Terroristen“ vorgehen zu können. Ihn kümmert die Kritik aus In- und Ausland wenig. Kein Anzeichen weist auf ein Abgehen von der Strategie des Ausnahmezustandes hin.

freiheit.org hat mit dem Projektleiter der Stiftung in der Türkei, Hans-Georg Fleck, über die Wirkungen des Ausnahmezustandes auf Politik und Gesellschaft der Türkei gesprochen.

Die EU-Kommission spricht in ihrem aktuellen Fortschrittsbericht zur Entwicklung des EU-Beitrittskandidaten Türkei davon, dass das Land „gravierende Rückschritte“ in den Schlüsselbereichen Rechtsstaatlichkeit, Grundrechte, Reform der öffentlichen Verwaltung und Meinungsfreiheit gemacht habe. Welche Rolle spielt hierbei der Ausnahmezustand?

Der Ausnahmezustand ist bekanntlich im Gefolge des Militärputsches vom 15. Juli 2016 verhängt worden. Er sollte dazu dienen, konsequent insbesondere gegen die Akteure und Hintermänner des Putsches vorzugehen. Dabei stand vor jeder Untersuchung der Umstände und Hintergründe der illegalen und verfassungswidrigen Aktion von Angehörigen des Militärs bereits fest, wo die Schuldigen zu suchen seien: und zwar im Umfeld des früheren politischen Partners und heutigen Intimfeindes von Präsident Erdoğan, des islamisch-konservativen Predigers Fethullah Gülen. Vergessen wir nicht Erdoğans Worte in den frühen Morgenstunden des 16. Juli als er von dem – offensichtlich gescheiterten – Putsch als einem „Geschenk Allahs“ sprach. Es begann eine große „Reinigungsaktion“ – vor allem in Armee, Polizei, Justiz- und Bildungswesen, aber auch in den Medien, zu deren rechtlicher Absicherung und Legitimierung man der Verhängung des Ausnahmezustandes bedurfte.

Dieser wird nun seit nahezu zwei Jahren exekutiert und die Konsequenzen sind dramatisch. Die Sicherheitsorgane und das Justizwesen sind unter der kompletten Kontrolle der Regierungspartei AKP und ihrer weit ausgreifenden Strukturen im ganzen Land. Und das heißt: Sie sind unter der Kontrolle von Präsident Erdoğan, der zwar seine uneingeschränkte Herrschaft noch meinte durch eine Verfassungsänderung hin zum Präsidialsystem „à la turca“ absichern zu müssen, der aber schon zuvor die völlig unangefochtene Spitze der von ihm proklamierten „Neuen Türkei“ war und ist. Denn die Herrschaft der AKP ist mehr denn je die Herrschaft eines Mannes: Recep Tayyip Erdoğan. Der Ausnahmezustand hat insofern – lässt man einmal die Zehntausenden von Verhafteten, Verurteilten und ihre als Volksfeinde stigmatisierten Angehörigen außen vor – mehr eine flankierende Funktion, um die Etablierung einer zunehmend autoritären Ein-Mann-Herrschaft abzusichern.

Auch die EU-Kommission fordert in diesen Tagen wieder ein Ende des Ausnahmezustandes. Wird diese Forderung den türkischen Präsidenten ins Grübeln bringen?

Grübeln? Selbstzweifel? Man muss nur in die regierungskonforme Presse, die „Systemmedien“, oder in die – nahezu ausnahmslos auf Linie gebrachten – elektronischen Medien der Türkei schauen, dann weiß man, welcher Kurs angesagt ist: Es sind immer die anderen, die sich endlich „besinnen“, auf die Türkei zugehen, auf den Kurs des weisen Präsidenten einschwenken müssen. Da sind die USA, die endlich ihrem syrischen Bündnispartner, den „Terroristen“ von PYD/YPD den Laufpass geben und die Syrien-Politik Ankaras unterstützen sollten. Die EU? Sie muss endlich aktiv gegen die krebsgeschwürartig wuchernde Islamophobie, die Türkei-Feindschaft und die (ungehinderten) Machenschaften der PKK in ihren Reihen vorgehen, bevor sie der Türkei, die sie ohnehin nur um deren unaufhaltsamen Aufstieg zu alter osmanisch-islamischer Macht und Größe beneidet, Ratschläge in Sachen Demokratie und Rechtsstaat erteilt.

Fleck

Hans-Georg Fleck ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Türkei.

© Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Der Ausnahmezustand dient der Austilgung aller Spuren des sogenannten FETÖ-Terrors, der Machenschaften im Umkreis der Gülen-Bewegung. Dieser mit missionarischem, ja alttestamentarischem Eifer nicht nur in, sondern auch außerhalb der Landesgrenzen (dort mit Hilfe geheimdienstlicher Häscherkommandos) betriebenen „Reinigungsaktion“ wird niemand anders Einhalt gebieten als der Präsident selbst. Im Sommer 2017 hat er es in seiner unnachahmlichen Weise, die viele seiner Landsleute zu Begeisterungsstürmen hinreißt, auf den Begriff gebracht, als er sagte, es kümmere ihn nicht, was „Hans“ und „George“ sagten und forderten: Er handele ausschließlich im Interesse des türkischen Volkes. Und daher müsse der Reinigungsprozess in allen Teilen der Gesellschaft zum Abschluss gebracht, der „Kult“ der FETÖ-Sekte ein für alle Mal ausgemerzt werden. Das damals Gesagte ist bis heute Richtschnur des politischen Handelns. Mit Hinweis auf die FETÖ-Terroristen, die PKK-Terroristen, die Terroristen des „Islamischen Staates“ oder irgendwelcher obskurer linksextremistischer Splittergruppen wird der Ausnahmezustand als weiterhin gerechtfertigt bezeichnet. Wer dies anzweifele – ob im In- oder Ausland – wolle nicht nur dem türkischen Staat schaden, sondern stelle sich schlicht dem Aufstieg der Türkei unter die führenden Mächte in Politik und Wirtschaft entgegen. Dieser Appell an den Nationalstolz und die warnende Anspielung auf die sinisteren Pläne ausländischer Mächte und ihrer inländischen Handlanger hat schon häufig genug in der Geschichte „gezogen“ – nicht nur in der Türkei anno 2018.

Spätestens im kommenden Jahr stehen in der Türkei Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an. Wird der Ausnahmezustand bis dahin der Geschichte angehören oder werden diese Wahlen – so wie das Referendum des April 2017 – unter für einen Rechtsstaat intolerablen Ausnahmebedingungen stattfinden?

Wenn man türkische Bürger der älteren Generation nach dem Unterschied zwischen der Lage unter dem Kriegsrecht nach dem Militärputsch 1980 und den jetzigen Bedingungen des OHAL, wie der Ausnahmezustand im Türkischen abgekürzt wird, befragt, so wird – bei allen Unterschieden im Detail – immer wieder auf eines hingewiesen: Das Kriegsrecht schaffte sehr harte, aber weithin berechenbare Zustände im Lande. Das Regime des Ausnahmezustandes hingegen wird als unberechenbar, willkürlich, als ein dem Ermessen z.T. subalterner Katzbuckler vor den präsumtiven Erwartungen „der“ oder (eher) „des da oben“ Ausgeliefertsein beschrieben. Instanzen, die den Intentionen der Macht die unüberwindlichen Hürden des Rechts entgegenstellen, existieren in der Türkei nicht mehr. Die Art und Weise, wie kürzlich erst der eher hilflose Versuch des Verfassungsgerichts, in den Fällen politisch verfolgter Intellektueller wieder Recht herzustellen, von der politischen Macht und ihr hörigen nachgeordneten Gerichten „abgebügelt“ worden ist, genügt als Beleg für die Aussage, dass der Rechtsstaat in der Türkei der Vergangenheit angehört.

Und weil vieles arbiträr, unkalkulierbar geworden ist, fällt es schwer, auf die gestellte Frage eine mehr als vage Antwort zu geben. Gegenwärtig, unter den Bedingungen eines durch das türkische Eingreifen in Nordwest-Syrien (Afrin) immens gesteigerten nationalen Pathos und vermehrter Gesten unverbrüchlicher nationaler Geschlossenheit angesichts des gemeinsamen (kurdischen) Feindes fällt es noch schwerer als zuvor, sich vorzustellen, es könne einen von einer breiten oppositionellen Front getragenen, halbwegs aussichtsreichen Gegenkandidaten gegen Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen geben. Ich glaube, man kann aufgrund der gegenwärtig obwaltenden Gesamtstimmung mit großer Gewissheit davon ausgehen, dass der neue Präsident mit dem alten personenidentisch sein wird.

Braucht man aber dann überhaupt noch den Ausnahmezustand als Schutz vor Feinden der bestehenden Ordnung? Könnte man mit diesen nicht genauso gut mit den Mitteln eines Rechtsstaates fertig werden? Diese Fragen stellen, heißt, sich der inneren Logik der „Neuen Türkei“ zu entziehen. Sie funktioniert nicht durch die Stichworte Demokratie, Rechtsstaat und Pluralismus. Sie lebt vielmehr von der Pervertierung des Demokratiebegriffs zur „majoritären Demokratie“, die die Existenz und die berechtigten Anliegen von Minderheiten ignoriert. Sie lebt von der Umgestaltung des Justizwesens zum verlängerten Arm einer derweil unkontrollierten exekutiven Macht. Sie lebt von der Verehrung des großen Führers, der an eine von aufwändigen TV Soap Operas illustrierte „glorreiche Vergangenheit“ anzuknüpfen verspricht. Wie sagte es neulich ein Schreiberling des Zentralorgans des Regimes („Sabah“): Alle Führer dieser Welt sind nichts als „Bürokraten“. Nur die Türkei verfügt über einen wahren Führer…ja, und ach, vielleicht noch Russland. Das ist eine klare Ansage.        

Dr. Hans-Georg Fleck leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Istanbul.