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Extremismusbeschluss
Gerhart Baum: „Die Demokratie war keine Sekunde in Gefahr“

Der Extremistenbeschluss 1972 und seine Folgen
Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher (l, FDP) und Werner Maihofer (r, FDP)
Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher (links ) und Werner Maihofer (rechts) © picture-alliance / dpa | Popp  

„Berufsverbote“, „Radikalenerlass“, „Extremistenbeschluss“ oder im Amtsdeutsch „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“? Der anhaltende Streit über die Begriffe führt mitten hinein in das Spannungsfeld von innerer Sicherheit und liberaler Demokratie. In der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern Ende Januar 1972 beraten, am 18. Februar gebilligt und vier Tage später veröffentlicht, stand der Beschluss über die „Beschäftigung von rechts- und linksradikalen Personen“ fortan im Zentrum des innenpolitischen Kampfes wie nur wenige andere Themen.

Bis heute gelten die „Grundsätze“ und ihre Durchführung als eine der kontroversesten Maßnahmen aus der Zeit der sozialliberalen Koalition und ihrer Innenminister Hans-Dietrich Genscher, Werner Maihofer und Gerhart Baum. In der Praxis waren allerdings Länder und Kommunen viel stärker beteiligt als der Bund, da bei jenen der Großteil der Bewerbungen für eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst anfiel. Der Anlass der damaligen Absprache der Innenminister ist auch heute wieder aktuell: Mit welchen Mitteln lassen sich Extremisten bekämpfen, und wie kann sich der demokratische Staat gegen seine Gegner schützen? 1972 sollten mittels einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz alle Bewerber dahingehend überprüft werden, ob ihre politische Aktivität auf eine verfassungsfeindliche Einstellung schließen ließ. Zweifel daran solle auch bereits eine Mitgliedschaft in einer Organisation, „die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“, begründen. Im Kern bekräftigte der „Extremistenbeschluss“ den in die Gründungszeit der Bundesrepublik und den Kalten Krieg zurückreichenden Treuepflichtbeschluss von 1950 („Adenauer-Erlass“), demzufolge sich alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes „aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes“ für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen hatten.

Während der Dauer des „Beschlusses“ von 1972 bis 1991 kam es bei 3,5 Millionen Regelanfragen lediglich in 35.000 Fällen zu einem Befund, der bei 2.150 Personen zur Ablehnung der Einstellung führte. Bei bereits Beschäftigten führten 2.000 Disziplinarverfahren in 256 Fällen zu Maßnahmen. Fast immer betraf es als linksextrem eingestufte Personen, nur eine Handvoll galt als rechtsextrem. Dies weckte den Verdacht halbseitiger Blindheit der Behörden und wurde ebenso heftig kritisiert wie die von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Handhabung, die der eigentlich beabsichtigten Vereinheitlichung widersprach. Was etwa bedeutete der Begriff „verfassungsfeindlich“ konkret? Wo war die Grenze für zulässige Systemkritik und Verletzung der Treuepflicht zu ziehen? Reichte tatsächlich die bloße Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen, aber vielleicht „verfassungsfeindlichen“ Organisation oder benötigte es aktive Betätigung gegen den demokratischen Staat? Die unpräzisen Formulierungen gaben den Behörden große Entscheidungsmacht; der Beschluss führte zur Stärkung der Exekutive, der einstellenden Behörde und besonders des Verfassungsschutzes. Es schien mehr um vermutete Gesinnungen und politische Einstellungen zu gehen, als um nachweisbare Handlungen. Mit dem Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft war dies nur schwer vereinbar. Jahre später fasste Gerhart Baum, Bundesinnenminister von 1978-1982, die Wirkung der damaligen Maßnahmen pointiert zusammen: „Also, die junge Generation, die sehr politisch aktiv war, fühlte sich beobachtet, bespitzelt und in ihrem beruflichen Fortkommen gehindert. Die Demokratie war keine Sekunde in Gefahr.“

So fragwürdig die praktische Handhabung der Regelungen war, gab es dennoch nachvollziehbare Gründe für den Beschluss: In der aufgewühlten Stimmung der frühen 1970er Jahre rechneten etliche Bundesländer mit einer wachsenden Zahl von möglicherweise radikalisierten Anwärtern für den öffentlichen Dienst, insbesondere im Bereich der Schulen und der Justiz. Die Befürchtung bezog sich auf links- wie rechtsextreme Gruppen: 1968 hatte die NPD in den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 9,8 Prozent der Stimmen erreicht und war 1969 in den Bundestagswahlen nur äußert knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Auf der linken Seite drohte der vielfach proklamierte „Marsch durch die Institutionen“, begleitet von der Entstehung zahlreicher marxistischer Gruppen, nicht zuletzt der 1968 – in Nachfolge der 1956 verbotenen KPD – gegründeten DKP. Flankiert wurde diese Entwicklung von einer wachsenden Gewaltbereitschaft gerade der linksradikalen Splittergruppen. Besonders verstörend war 1969 ein Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin ausgerechnet am 9. November; einen weiteren Höhepunkt der Gewalt bildete der Mai 1972 mit einer Anschlagserie in sechs Städten, der zahlreiche Menschen zum Opfer fielen.

„Sicherheit“ avancierte in vielfältiger Hinsicht zum neuen Leitbegriff – sozial und außenpolitisch, aber eben auch in der Sorge vor politisch motivierter Gewalt. Und die sozialliberale Koalition investierte massiv in den Ausbau der inneren Sicherheit, manche Behörden, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt, wuchsen binnen zehn Jahren um ein Vielfaches ihrer Personalstärke.

Noch ein anderes Motiv kam hinzu: Mit der Zustimmung zum Extremistenbeschluss versuchte die sozialliberale Koalition, die Angriffsfläche der Opposition auf die Reform- und Ostpolitik zu verkleinern. Zur Entspannung gegenüber der Sowjetunion und der DDR gehörte komplementär die innenpolitische Abgrenzung von radikalen linken Gruppen. Der Beschluss machte auch ein bereits diskutiertes Verbot der DKP weniger dringlich (was Willy Brandt im September 1971 Generalsekretär Breshnew zugesichert hatte). Der Streit um das Parteiverbot transformierte sich in einen Streit über Treuepflichten und politische Zugangsbedingungen zum Staatsapparat.

Da der Beschluss zwar möglicherweise half, die Ostverträge im Bundestag unter Dach und Fach zu bringen, das innenpolitische Klima aber keineswegs befriedete, griff im Regierungslager die FDP den anschwellenden Protest auf: Ohne den Beschluss grundsätzlich in Frage zu stellen, monierte der Bundesvorstand im September 1973, dass die Regelung ihren Zweck, eine gleiche Handhabung in den Bundesländern sicherzustellen, nicht erreicht habe. Vor allem aber benötige es „in der Frage des Verhältnisses zwischen der Treuepflicht der Beamten und dem Parteiprivileg des Grundgesetzes“ ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Werner Maihofer, Genschers Nachfolger als Bundesinnenminister, kritisierte im November 1974 die aktuelle Praxis noch deutlicher: Es benötige keine „willfährigen“ Beamten, „unser demokratischer Staat ist gefestigt genug, daß er nicht zuletzt um der Wahrhaftigkeit seines Selbstverständnisses wegen politisch inkonforme, aber verfassungstreue Mitarbeiter nicht von sich fernzuhalten braucht.“ Das Unbehagen der liberalen Kritiker wurde schließlich vom Bundesverfassungsgericht 1975 bestätigt: Die bloße Mitgliedschaft in einer extremistischen, aber nicht verbotenen Partei, reiche für Zweifel an der Verfassungstreue in der Regel nicht aus.

Den entscheidenden Schritt vollzog dann Gerhart Baum, der hinsichtlich des Umgangs mit dem Linksextremismus auf Deeskalation setzte. Wir müssen versuchen, „aus den Schützengräben herauszukommen“, der Extremistenbeschluss habe die Loyalität zur Demokratie nicht bestärkt, so Baum 1979. Als „Zeichen für die Liberalität des Staates“ schaffte er die Regelanfrage des Bundes beim Verfassungsschutz ab: Diese sei „Ausdruck eines Mißtrauens des Staates gegenüber seinen jungen Bürgern; eines Mißtrauens, das zu Anpassung und Duckmäuserei geführt“ habe. Es dauerte dann noch bis 1991, bis auch das letzte Bundesland, Bayern, die Verfahrensweise beendete.

Welche Folgen der etatistisch orientierte Demokratieschutz des Extremistenbeschlusses besaß, ist bis heute strittig. In der Situation des Jahres 1972 erschienen die Maßnahmen vielen durchaus schlüssig und notwendig. Ob die demütigende und teils willkürlich anmutende Praxis manchen zur Anpassung zwang oder eher die Radikalisierung einiger noch verstärkte, darüber kann spekuliert werden. In jedem Fall aber waren die Folgen kontraproduktiv und prägten eine ganze Generation. Ähnlich erfolglos war übrigens auch das vergleichbar motivierte „Republikschutzgesetz“ der Weimarer Republik, mit dem nach der Ermordung Walther Rathenaus 1922 und dem fehlgeschlagenen Anschlag auf Philipp Scheidemann die Demokratie gesichert werden sollte.

Für die Bekämpfung aktueller Bedrohungen der Freiheit bildet der Extremistenbeschluss von 1972 wohl kaum eine Blaupause. Der Blick sollte sich, stärker als vor fünfzig Jahren, darauf richten, die Zivilgesellschaft zu stärken und Menschen für den aktiven Einsatz für die Demokratie zu gewinnen.