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Neubewertung von 1848
Gefährliche Verherrlichung der radikaldemokratischen Revolutionäre gegen die liberalen Parlamentarier

Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. am 18. Mai 1848

Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a.M. am 18. Mai 1848

© picture-alliance / akg-images | akg-images

Wie die Revolution von 1848/49 in das Gedächtnis zukünftiger Generationen eingehen wird, scheint offener denn je. War sie eine gescheiterte, langfristig aber wirkungsreiche, eine radikale, eine demokratische oder liberale Revolution? Handelt es sich um eine „ganze“ oder nur um eine „halbe“ Revolution?

Es gibt viele Fragen, die sich stellen, wenn man in Deutschland über eine Revolution spricht – im Allgemeinen und in Bezug auf 1848. Durch die zahlreichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen der beiden Gedenkjahre 2023 und 2024 ist deren Zahl nicht kleiner, sondern vielfältiger geworden. Nun ist es ein normaler Vorgang, dass sich historische Perspektiven ändern und dass sie dabei insbesondere vom Klima der Zeit abhängig sind. Das merkt man auch hier: In der Wissenschaft wie in der breiteren Öffentlichkeit hat sich der Blick auf die Revolution gewandelt.

Der Kompromiss soll ein Fehler gewesen sein

Neuerdings gelten die Liberalen – wie beispielsweise in „Die Flamme der Freiheit“, der vielfach gelobten Gesamtdarstellung des Schriftstellers und Verlegers Jörg Bong – als die Verhinderer eines grundlegenden Umbruchs vor 175 Jahren. Der Kompromiss der liberal-konstitutionellen Kräfte mit der Monarchie wird als prinzipieller Fehler bewertet. Dagegen werden die Demokraten von damals als die einzig entschiedenen Revolutionäre gezeigt. Ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit wird Bewunderung gezollt, ihr Einsatz als Vorkämpfer der Freiheit als vorbildhaft anerkannt. Denn im Gegensatz zu den Liberalen und erst recht zu den konservativen Revolutionsgegnern hätten die Demokraten eine zukunftsweisende Sicht vertreten, und damit all jene Werte, die wir heute schätzen, wie Partizipation und Eman­zipation. Der Berliner Historiker Rüdiger Hachtmann erkennt in den Ereignissen vom März 1848 einen wesentlichen Versuch, „von unten herauf die Gesellschaft fundamental zu demokratisieren“.

Manchmal hat man geradezu das Gefühl, dass Liberale in den Debatten gar nicht mehr vorkommen. Die Freiburger Historikerin Claudia Gatzka bringt die neue Denklinie auf den Punkt: „Parlamentarismus als den Telos und den Wert der liberalen Demokratie anzusehen griffe dabei zu kurz. Zu den Erinnerungsorten der deutschen Demokratiegeschichte gehören auch außerparlamentarische Bewegungen und direktdemokratische Praktiken.“ Straße kontra Sessel, Demokraten gegen Liberale, direkte gegen repräsentative Demokratie, lautet verkürzt das Motto.

Mit einem Erfolg der Demokraten gegen die Monarchisten und die mit ihnen paktierenden Liberalen hätte sich womöglich die weitere deutsche Geschichte grundlegend anders entwickelt. Es darf spekuliert werden: Es wäre womöglich schon 1848/49 die deutsche Einheit verwirklicht worden und ein demokratischer Bundesstaat entstanden, und damit wären Bismarck und erst recht die späteren Katastrophen der deutschen Geschichte verhindert worden.

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Skepsis gegenüber der Repräsentation

Ursache, Verlauf und Wirkung der Revolution von 1848/49 sind vielfach untersucht worden. Vor 25 Jahren wurde das hundertfünfzigjährige Gedenken ausführlich begangen. Allerdings hat sich in der Einschätzung seitdem sehr viel gewandelt, was nicht zuletzt der verbreiteten Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie geschuldet sein dürfte. Behandelte man 1998 noch ausführlich die Nationalversammlung, so geht es heute deutlich stärker um den Protest auf der „Straße“. Auf den Barrikaden waren immerhin Frauen und Unterschichten beteiligt, die man in der Paulskirche ausschloss beziehungsweise auf die Tribüne verbannte – eine Tribüne, von deren baulicher Wiederherstellung der eine oder andere zu träumen begann, als im Zuge der vom Bundespräsidenten angeordneten Bemühungen um die Orte der Demokratie die Nachkriegsgestalt der Paulskirche kurzzeitig zur Disposition gestellt wurde.

Vielleicht müssen wir zukünftig das „Lob der Revolution“ singen, wie es für den vom Krieg herbeigeführten Systemwechsel 1918/19 Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in einem gemein­samen Buch angestimmt haben. Aber was tun wir genau, wenn wir eine Revolution loben? Bewerten wir deshalb sämtliche Begleiterscheinungen positiv oder nur ausgewählte oder gar nur wenige? Wie gehen wir insbesondere mit dem Thema Gewalt um?

Wenn heute der badische Revolutionär Friedrich Hecker und die Radikaldemokraten Anerkennung finden, dann wird man dabei akzeptieren müssen, dass auf dem von ihm initiierten und geleiteten Heckerzug viele zivile und auch etliche militärische Opfer zu beklagen waren, darunter teils Unbeteiligte und politisch nicht Engagierte. Will man wirklich sämtliche Opfer von Gewalt im Rahmen revolutionärer Ereignisse als tragische „Kollateralschäden“ ansehen, und soll man zwischen „gerechten“ und unschuldigen Ge­tö­teten und Verletzten differenzieren?

Der Antisemitismus der Straße

Man muss immer bedenken, dass es auch massive antisemitische Vorfälle auf der Straße gab. Bei der Lektüre von Bong hat man das Gefühl, dass der Appell zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Jahr 1848 als verwerflich gilt, weil er die damaligen Revolutionsgegner vermeintlich stärkte. Es geht ja gar nicht darum, dass man rückblickend eine völlig gewaltfreie Revolution fordern müsste – das wäre historisch fehl am Platze und unrealistisch. Aber die Akzeptanz von Angriffen auf Leib, Leben und Eigentum damit zu rechtfertigen, dass es hier um vermeintlich „höhere“ und ehrenwerte Ziele gegangen sei, ist eine aktuelle Perspektive auf ein historisches Ereignis, welche dieses moralisch bewertet und damit seines historischen Standorts beraubt.

Ein anderer Punkt: Wie blickt man heute auf den Parlamentarismus in der Paulskirche? Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Gruppen, erster Formen von Fraktionen, wird kritisiert, weil es als parlamentarisches Verfahren zu lange gedauert, damit wirkliche Ergebnisse hinausgezögert habe und in einen mehr oder weniger angemessenen Kompromiss gemündet sei. „Faul“ sei dieser gewesen, weil nicht radikal und entschieden genug. Die Liberalen hätten im Plenum verhandelt, die Demokraten dagegen auf der Straße gehandelt. Straßenpolitik, Aktionen und Demonstrationen seien doch viel effektiver als zähes Ge­rede. Der außerparlamentarische Druck, der hier entfaltet worden sei, habe schließlich erst die Reformen der Paulskirche ermöglicht, so das Resümee von Albert Scharenberg von der Rosa-Luxemburg-Stiftung. An Sinn und Bedeutung einer parlamentarischen Aussprache geht eine solche Kritik vorbei. Sie bedient sich historischer Beispiele zur Begründung von politisch motivierten, in ihrem Kern antiparlamentarischen und antidemokratischen Vorurteilen.

Auch eine weitere Kritik an der Paulskirche findet sich häufig, so bei dem von Jüngeren geschätzten „MrWissen2go“ Mirko Drotschmann auf Youtube. Gemessen an den von der Bevölkerung ausge­übten Berufen sei die Nationalversammlung sozial gesehen nicht repräsentativ, sondern ein „Professorenparla­ment“ gewesen. Abgesehen davon, dass in abschätziger Verwendung dieses Etiketts Intellektuellenfeindlichkeit durchschimmert, gilt es festzuhalten, dass kein Parlament auf der Welt bis heute in seiner Zusammensetzung der durch sie vertretenen Bevölkerung entspricht. Stets handelt es sich bei den gewählten Volksvertretern um parlamentarische Eliten. Eine Kritik an der Paulskirche bedient auch hier antiparlamentarische Vorbehalte, wie viele sie heute politisch beklagen, aber historisch bisweilen bedenkenlos übertragen.

Unterschiedliche Wege zur Demokratie

Statt den Parlamentarismus an einem angeblichen Ideal zu messen, gilt es die Vielfalt der politischen Meinungen in der Realität der Revolutionsjahre 1848/49 zu akzeptieren, die Anstrengungen für einen politischen Kompromiss anzuerkennen und diejenigen zu würdigen, die auf parlamentarische Weise und ohne Einsatz (oder Legitimation) von Gewalt eine Ver­fassung erstritten. Wir werden offenbar erst wieder lernen müssen, dass es ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts un­terschiedliche Wege zur liberalen Demokratie gab, die erst langfristig und über tragische Umwege schließlich in ei­nen Erfolg mündeten.

Es führt nicht weiter und ist zudem unhistorisch, wenn wir geschichtliche Ereignisse und Akteure moralisch bewerten und in Kategorien wie „gut“ und „böse“ einteilen. Eine liberale politische Einstellung war 1848/49 nicht weniger „le­gitim“ als eine demokratische. Waren es doch die liberalen Akteure in der Paulskirche, denen wir die bis heute wirkenden Erfolge wie Grundrechte und Verfassung verdanken.

Wenn man, wie Stefan Müller von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Liberalen wegen ihrer Scheu vor sozialer Gleichheit und ihrer Furcht vor der Gewalt kritisiert und stattdessen nur die „Arbeiterbewegung und Arbeiterinnenbewegung und die Sozialdemokratie“ als „die Erben und Erbinnen der Revolution von 1848“ gelten lässt, weil diese „die Verbindung von Freiheit mit sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit“ gefordert hätten, so ist das kein historisches, sondern ein anachronistisches Urteil. Dagegen ist dem Hallenser Historiker Theo Jung beizupflichten, der jüngst betonte, man dürfe „die Revolution nicht per se als demokratische Bewegung“ beschreiben, sondern müsse „benennen, dass Demokraten und Demokratinnen nur eine kleine, radikale Gruppe darstellten“.

Die Revolution von 1848/49 ist eben nicht primär eine soziale und auch keine wesentlich sozialdemokratische, sondern in ihrem Kern und in ihren langfristigen Folgen eine liberale Revolution und ein zentraler liberal-demokratischer Erinnerungsort. Schließlich knüpften die liberalen und demokratischen Grundgesetze von 1919 und 1949 zu Recht an die Grundrechte von 1848 und die Reichsverfassung von 1849 an. Damit ist die Revolution von 1848/49 Teil unseres historischen Selbstverständnisses und des deutschen Weges zu Parlamentarismus, Rechtsstaat und Grundrechten. Diese Erinnerung als einen wichtigen Baustein in der Geschichte un­serer liberalen Demokratie und des Liberalismus als politischer Idee wachzuhalten ist Erbe und Auftrag einer gemeinsamen li­beralen und demokratischen Erinnerungskultur.

 

Ewald Grothe leitet das Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung in Gummersbach. Seine jüngste Buchpublikation ist die Aufsatzsammlung „Freiheitliche Ideen. Der schwierige Weg zur liberalen Demokratie“.

Dieser Artikel erschien erstmals am 9. März 2024 bei der FAZ.