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EUROPA
Die EU am Scheideweg: Strategische Autonomie als strategisch versierte Souveränität

Die Flagge der Europäische Union ist im Vorfeld einer Plenarsitzung hinter einem Rednerpult zu sehen
Die Flagge der Europäische Union ist im Vorfeld einer Plenarsitzung hinter einem Rednerpult zu sehen © picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Europa muss ein neues Selbstverständnis für sich und seine Rolle in der Welt entwickeln, um seine Fähigkeit zu stärken, seine Souveränität strategisch auszuüben. Die Funktionslogik der EU, die „Brüsseler Methode“, impliziert, dass Konflikte immer durch Verhandlungen, Geduld und Kompromisse gelöst werden können. Diese Neigung zu Engagement, Dialog und Entgegenkommen hat sich zwar im Inneren bewährt, wird aber zur Belastung, wenn er auf entschlossene Revisionisten trifft, die die Demokratie untergraben, die Einheit des Westens vereiteln und eine Beschwichtigungspolitik betreiben wollen. Die EU muss lernen, mit der Rivalität zu leben, sie zu bewältigen und ihre eigenen Überzeugungs- und Zwangsmittel entschlossener einzusetzen. Im Umgang mit ihrem externen Umfeld hat die EU lange Zeit eine Form von unbewusster Hegemonie praktiziert. Doch Überzeugungskraft nach außen und Widerstandsfähigkeit nach innen schließen sich weder gegenseitig aus noch sind sie ausreichend.

Die EU-27 sind eine Gemeinschaft von Staaten, die der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, der freien Marktwirtschaft, der individuellen Freiheit und den universellen Menschenrechten verpflichtet sind. Das Wohlergehen und die Fähigkeit Europas, werden sich verschlechtern, wenn die liberale Ordnung weiter erodiert. Einerseits muss sich die EU besser gegen Desinformation und Propaganda, Cyberangriffe, ausländische Bemühungen, den Westen zu verleumden und zu untergraben, und die (potenzielle) Ausnutzung der gegenseitigen Abhängigkeit schützen. Auf der anderen Seite muss sie selbstbewusster und durchsetzungsfähiger werden. Dabei muss sie die gesamte Bandbreite ihrer politischen Mittel, die die politische, wirtschaftliche, militärische und normative Dimension umfassen, flexibel und gezielt einsetzen. Voraussetzung hierfür ist die politische Entschlossenheit, um Regelverstöße anzuprangern und zu sanktionieren, ebenso wie militärisches Durchsetzungsvermögen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind Maßnahmen wie die Mechanismen zur Überprüfung von Investitionen, aber auch ein härteres Vorgehen gegen unfaire Handelspraktiken, Vorsichtsmaßnahmen im Bereich der Technologie und der kritischen Infrastruktur gerechtfertigt.

Um Souveränität zu erlangen, müssen die bereitwilligen Akteure in Europa in der Lage sein, Führung zu übernehmen. Die EU kann nicht zu einem fähigeren, selbständigen Akteur werden, wenn der kleinste gemeinsame Nenner weiterhin den Weg vorgibt. Die EU braucht eine flexiblere, modularere Haltung in Außen- und Sicherheitsangelegenheiten, die es Mehrheitsverhältnissen und Koalitionen der Bereitwilligen in ihrer Mitte ermöglicht, die Führung zu übernehmen. Dies schließt zwangsläufig die Mobilisierung und Organisation militärischer Macht sowie neue Investitionen ein. Das Ziel muss es sein, schnell und effektiv Fähigkeiten zu entwickeln. Die Debatten über die EU-Armee sollten jedoch mit einer gesunden Portion Skepsis betrachtet werden. Die Aufstellung von EU-Streitkräften würde in den Treibsand der nationalen Hemmungen führen und die Bemühungen wahrscheinlich zunichte machen, bevor sie überhaupt begonnen haben. Die Stärkung der europäischen Eigenständigkeit innerhalb der EU sollte immer im Zusammenhang mit der NATO gesehen werden, als eine Möglichkeit, den europäischen Pfeiler in der NATO zu stärken, wie dies auch mit früheren Initiativen beabsichtigt war.

Eine flexiblere EU in Außen-, Sicherheits- und Verteidigungsangelegenheiten würde durch eine Bündnisdiplomatie an Souveränität gewinnen. Die Auswirkungen der Anarchie werden unmittelbarer spürbar werden, wenn Institutionen wie der UN-Sicherheitsrat blockiert sind und internationales Recht ungestraft gebrochen wird. Um Regel- und Normbrecher zu sanktionieren, ist die EU auf Partner angewiesen. Der Versuch, die EU in einen eigenständigen militärischen Machtblock nach dem Vorbild der USA oder anderer Länder zu verwandeln, ist zum Scheitern verurteilt. Zielführender ist es, sich mit gleichgesinnten Verbündeten zusammenzuschließen und die Mittel der EU zur Machtprojektion mit deren Mitteln zu verbinden.

Die EU steht vor der Aufgabe, sich zu einem souveränen strategischen Akteur umzugestalten. Dies ist eine große Herausforderung. Der mangelnde Einfluss der EU in der derzeitigen internationalen Ordnung muss ehrlich bewertet werden. Es besteht zwar ein breiter Konsens darüber, dass die EU auf der internationalen Bühne unabhängiger werden muss, aber das Streben nach strategischer Autonomie im militärischen Sinne ist ein ungeeigneter Ansatz. Die EU braucht keine Autonomie, sie muss eine souveräne und strategisch versierte Entität werden. Der Weg dorthin erfordert eine Fülle von Reformen und Initiativen, von denen drei hier untersucht wurden: Die EU braucht eine realistischere Denkweise, um mit realen Gegensätzen umgehen zu können, sie braucht Mitgliedstaaten die bereit sind, den Weg zu einer modulareren Außen- und Sicherheitspolitik zu gehen, und sie braucht mehr Partner und gleichgesinnte Verbündete in der ganzen Welt. Es steht viel auf dem Spiel, und es muss klar sein: Die Erlangung strategischer Souveränität ist keine nette Beigabe oder nur ein weiterer Reformbereich, um den man sich im komplexen institutionellen Gefüge der EU kümmern muss. Ihr Erfolg ist entscheidend für die künftige Bedeutung und das Überleben der EU, wie wir sie kennen.

 

Den vollständigen englischen Beitrag lesen Sie in der Publikation „Beyond Autonomy“.