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Internationale Politik
Chinas Rolle in der Welt

Bundeskanzler Olaf Scholz
© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Scholz in China: „Positives Signal“ an Europa, die Beziehungen zu verbessern

Am 4. November 2022 flog Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer Wirtschaftsdelegation für einen Tag nach Beijing, um Gespräche mit Staats- und Parteichef Xi Jinping zu führen. Es war eine Reise der drei Premieren (三个首次), wie es die chinesische Presse nannte: Scholz besuchte China als erster Staatsgast nach dem 20. Parteitag im Oktober und als erster westlicher Regierungschef seit Beginn der Pandemie in China und erstmals in seiner Funktion als deutscher Bundeskanzler. Beide Länder blicken dieses Jahr auf 50 Jahre deutsch-chinesische Beziehungen zurück. Chinesische Staatsmedien feierten den Besuch als positives Signal einer stabilen Zusammenarbeit und Scholz als Garant für Kontinuität. Symbolisch dafür steht seine 40 Jahre alte Aktentasche, die in Artikeln vielfach Erwähnung fand.

In Deutschland wurde Scholzʼ China-Reise kritisch diskutiert und auf Werte- und Interessenkonflikte mit der Volksrepublik hingewiesen, gerade mit Blick auf Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten. Diese Bedenken sollen auch im Rahmen einer neuen, ressortübergreifenden China-Strategie der Bundesregierung adressiert werden, an der federführend das Auswärtige Amt arbeitet und die in die China-Politik der EU eingebettet sein soll.

Auch wenn die neue Strategie erst 2023 fertiggestellt wird, ist schon jetzt klar: die Tendenz geht in Richtung einer wertegeleiteten Außenpolitik und eines Abbaus wirtschaftlicher Abhängigkeiten. Scholz sprach sich einige Tage vor seiner Reise in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung gegen eine Abkopplung von China aus. Er kündigte zugleich auch den Abbau einseitiger Abhängigkeiten an. Zwar solle eine Blockbildung vermieden und gemeinsam der Einsatz von Nuklearwaffen verhindert werden. Zugleich merkte er jedoch an, dass ein anderer Umgang mit China notwendig sei.

Scholz war das erste, aber nicht das einzige westliche Staatsoberhaupt, das im November und Dezember 2022 nach langer Pause Xi persönlich traf. Auch US-Präsident Biden und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trafen Chinas Staats- und Parteichef – allerdings am Rande des G20-Gipfels auf Bali. Anfang Dezember folgte dann die Reise von EU-Ratspräsident Charles Michel nach Beijing. Angesichts zunehmender Spannungen mit westlichen liberalen Demokratien legt Beijing in seinen Außenbeziehungen den Schwerpunkt verstärkt auf andere Staaten und Regionen.

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu verstehen, wie Deutschland, aber auch verbündete westliche Staaten, in China diskutiert werden und was die chinesischen Erwartungshaltungen mit Blick auf die politischen Beziehungen sind.

Pragmatisch, rational und wirtschaftsbezogen: Chinesische Experten-Diskussionen über Deutschland weichen kaum von der offiziellen Position ab

Der Rahmen des Sagbaren ist für Akdemiker:innen in Anbetracht von ideologischer Disziplinierung kleiner geworden, auch wenn Expert:innen in Forschungsbeiträgen, Artikeln oder Videos in sozialen Medien immer wieder Grenzen ausloten. Auch die Reisebeschränkungen der vergangenen Jahre und Zensur internationaler Seiten erschweren es chinesischen Wissenschaftler:innen, sich mit Debatten in Deutschland und Europa auseinanderzusetzen.

Zum Scholz-Besuch und den deutsch- und europäisch-chinesischen Beziehungen meldeten sich renommierte Deutschland- und Europa-Expert:innen zu Wort – doch gab es wenig grundlegende Differenzen in ihren Einschätzungen und kaum Abweichungen von der offiziellen Position. Das zeigt auch die folgende Auswahl zentraler Aussagen:

Zur Bedeutung des Scholz-Besuchs

Chinesische Expert:innen konzentrieren sich in ihren Analysen zum Treffen von Scholz und Xi fast ausnahmslos auf die Bedeutung stabiler wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Der Besuch von Scholz wird als klares Signal für die Fortführung wirtschaftlicher Beziehungen und als „Anker der Stabilität“ (稳定之锚) für die chinesischen Beziehungen zur EU gesehen, so Cui Hongjian (崔洪建), Direktor des Instituts für Europastudien der Chinesischen Akademie für Internationale Studien.

Die Absage an eine Abkopplung (脱钩) zieht sich als roter Faden durch die Beiträge, häufig mit Verweis auf das Zitat von Scholz, der eine Abkopplung für unmöglich erklärte. Neben der wirtschaftlichen Zusammenarbeit werden auch gemeinsame Interessen in Bezug auf die Pandemiebekämpfung, den Klimawandel, die Energiekrise und die Verhinderung von Nuklearwaffeneinsätzen erwähnt – allerdings nicht das Thema Menschenrechte.

Chinesische Expert:innen teilen die Erwartung der chinesischen Regierung, dass die bilateralen Beziehungen mit Deutschland pragmatisch, rational und nicht unnötig politisch aufgeladen sein sollten. So schreibt Zheng Chunrong (郑春荣), Direktor des Instituts für Deutschlandstudien der Tongji-Universität, dass „das deutsche Außenministerium nur eine realistische China Strategie verfolgen solle.“ (外交部唯一能做的就是制定符合现实的对华战略).

Zu Scholz’ Rolle in der Gestaltung der deutsch-chinesischen Beziehungen:

Scholz führt aus Sicht der Expert:innen die China-Politik seiner Vorgängerin Angela Merkel fort. Sie betonen seinen Wirtschaftsfokus und seine langjährigen Beziehungen zu China aus seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister und Finanzminister.

Tian Dewen (田德文), Sekretär des Disziplinarausschusses und stellvertretender Direktor des Instituts für Europastudien der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, beschreibt, dass Scholz für pragmatische deutsch-chinesische Beziehungen steht und Durchsetzungsfähigkeit gegen Stimmen, die sich gegen eine Zusammenarbeit mit China aussprechen. Chinesische Expert:innen verweisen auf Scholz‘ Rolle beim umstrittenen Einstieg der chinesischen Staatsrederei COSCO im Hamburger Hafen. Zheng erklärt, von Scholz werde erwartet, dass er am eingeschlagenen Kurs festhält, Führungsstärke beweist, sich weiter durchsetzt und sich nicht von anderen Regierungspartnern die Zügel aus der Hand nehmen lässt. Mit Scholz assoziieren chinesische Expert:innen Rationalität, Pragmatismus und Verlässlichkeit.

Zu Problemen in den deutsch-chinesischen Beziehungen

Wenn von einer Verschlechterung der Beziehungen gesprochen wird, wird dafür zumeist eine kritische Minderheit in der deutschen Regierung verantwortlich gemacht, allen voran einzelne Vertreter:innen der Grünen und die FDP, die auf Basis nicht rationaler Entscheidungen handelten. Yang Xiepu (杨解朴), Direktorin des Deutsch-Chinesischen Kooperationszentrums der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, thematisiert die Einflussnahme der USA, die versuchten, einen Keil zwischen China und die EU zu treiben.

Chinesische Expert:innen begründen das Misstrauen der EU-Staaten mit dem Umstand, dass China in der „Ukraine-Krise“, wie der Krieg in China meist genannt wird, nicht dieselbe Position einnimmt wie die EU. Tian begründet das angeschlagene Vertrauen zudem damit, dass sich Länder angesichts der angespannten geopolitischen Lage (Krieg in der Ukraine, Energiekrise, Klimawandel) stärker auf eigene Interessen statt auf internationale Zusammenarbeit konzentrierten.

Abbildung 1
© Merics_China Spektrum 

Zu den Beziehungen zu Frankreich, der EU und den USA

Auch hier erachten die Expert:innen Xis bilaterale Gespräche mit Biden, Macron und Michel als positiv. Sie wiederholten Forderungen der Regierung, dass man gemeinsam den Multilateralismus stärken, die internationale Ordnung verteidigen und sich für eine stabile Weltwirtschaft einsetzen solle.

Aus Sicht einiger Beobachter:innen, darunter Professor Yang Mian (杨勉) vom Institut für Internationale Beziehungen an der Chinesischen Kommunikationsuniversität, verfolgt die EU gegenüber China eine „zweigleisige Politik“ (欧洲的政策具有两面性): viele europäische Staaten stehen den USA ideologisch näher, vor allem seit dem Krieg in der Ukraine, haben allerdings enge Wirtschaftsbeziehungen mit China. Expert:innen wie Tian argumentieren, dass China vertrauenswürdiger und stabiler sei als die USA – auch als Partner für Deutschland. Sie betonen die moralische Überlegenheit und WeitsichtigkeitChinas.

Das Ausblenden von Konfliktthemen mit Deutschland auf chinesischer Seite birgt Risiken

Die Analysen dieses offiziellen Besuchs bilden nicht die gesamte chinesische Debatte über die Beziehungen zu Deutschland ab. Zudem bestand auf chinesischer Seite angesichts des 50. Jahrestags der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Deutschland ein Interesse, optimistisch nach vorne zu blicken. Doch zeigt diese Momentaufnahme dieser in China unter Deutschland- und Europa-Kenner:innen geführten Debatte, dass manche Erwartungen des Parteistaats an die bilateralen Beziehungen unrealistisch sein dürfen.

Dies zeigt sich in einer eindimensionalen Einschätzung und Überbetonung der positiven Ergebnisse des Treffens und der persönlichen Handlungsmacht des Kanzlers im deutschen politischen System, aber auch in der Ausblendung der breiteren öffentlich Debatte zum Umgang mit China in Deutschland. Diese Sichtweisen können Probleme und zunehmendes Konfliktpotential in den deutsch-chinesischen Beziehungen überdecken. So könnte es schnell zu falschen Erwartungen und Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten kommen, wenn Deutschland – und auch Olaf Scholz – dem chinesischen Wunsch nicht folgt, den Primat der Wirtschaft walten zu lassen.

Ansichten über die beiderseitigen Beziehungen klaffen in Deutschland und China weit auseinander

Die Medienberichterstattung und Experten-Debatten zeigen: in China wird Deutschland als wichtiger Partner und Verbündeter gesehen. Dem Treffen von Xi und Scholz wird eine Signalwirkung an die EU zugeschrieben. Bezeichnend ist, dass die Expert:innen in ihren Einschätzungen sehr dicht an der Darstellung und Wortwahl der Staatsmedien und öffentlichen Stellungnahmen bleiben.

In der Debatte über die beiderseitigen Beziehungen in Deutschland dominieren hingegen kritische Sichten auf China: Hierzulande findet seit Monaten mit Blick auf die Kanzlerreise, die Entscheidung zur Beteiligung von COSCO im Hamburger Hafen und die in Arbeit befindliche China-Strategie der Bundesregierung eine intensive Diskussion darüber statt, wie die zukünftige Zusammenarbeit mit China aussehen sollte.

In drei zentralen Punkten unterscheidet sich die chinesische Wahrnehmung und Erwartungshaltung grundlegend von der deutschen Position:

Gestaltung der Beziehungen: Die chinesische Regierung wünscht sich mehr Zusammenarbeit, setzt aber den Schwerpunkt auf die Wirtschaftsbeziehungen. Unterschiedliche Ansichten zu einzelnen Themen werden akzeptiert, doch China erwartet Pragmatismus und keine „Politisierung“ der Beziehungen. Auch wenn es nicht direkt thematisiert wird, schwingt die Erwartung mit, dass für Beijing heikle Themen wie Menschenrechte und der Status Taiwans nicht angesprochen werden und China bei Investitionen und dem Marktzugang in Deutschland keine Einschränkungen auferlegt werden sollten.

Rolle und Gestaltungsspielraum von Olaf Scholz: Scholz’ Position wird als China zugewandt und seine Handlungsmacht innerhalb der deutschen Regierung als sehr stark interpretiert. Scholz wird als Macher gesehen, der sich für enge Beziehungen mit China einsetzt und sich dabei auch gegen FDP und Grüne durchsetzt.

Politische und öffentliche Debatte: Die Sorgen von deutschen Unternehmen, politischen Entscheidungsträgern und zivilgesellschaftlichen Akteuren, die in der Diskussion um Abkopplung und eine neue Strategie für den Umgang mit China zum Ausdruck kommen, bleiben in chinesischen Diskussionen unerwähnt oder werden als Minderheitsmeinungen bewertet. Auch die öffentliche Wahrnehmung Chinas in Deutschland nicht beleuchtet: Dabei hat die Zahl der Deutschen mit überwiegend negativem Bild von China laut einer Pew-Umfrage 2021 mit 74 Prozent einen Rekord erreicht. 78 Prozent gaben an, Deutschland solle sich auch dann für Menschenrechte einsetzen, wenn dies wirtschaftliche Nachteile zur Folge hätte.

 

Diese Analyse erschien in der Reihe China Spektrum, ein gemeinsames Projekt des China-Instituts der Universität Trier (CIUT) und des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Das Projekt wird ermöglicht durch die Förderung der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. 

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