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50. Jahrestag
Aufnahme der BRD in die Vereinten Nationen

Rückblick auf die Rede des Außenministers Walter Scheel in New York
Bundesaußenminister Walter Scheel (FDP) hält am 19.9.1973 vor der UN-Vollversammlung in New York seine Antrittsrede.

Bundesaußenminister Walter Scheel (FDP) hält am 19.9.1973 vor der UN-Vollversammlung in New York seine Antrittsrede.

© picture-alliance / dpa | Rauchwetter

Auszug aus einem Essay von Gundula Heinen im Band von Knut Bergmann (Hg.) „Walter Scheel – Unerhörte Reden“.

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York: für jeden Rednerin und jeden Redner buchstäblich eine Weltbühne, heute wie damals, auch wenn die größte internationale Organisation 1973 „erst“ 132 Mitglieder (im Vergleich zu derzeit 193) zählte. An jenem 19. September, als Walter Scheel im Plenum sprach, waren gerade zwei deutsche Staaten hinzugetreten: die DDR als Nummer 133 und die BRD als 134. Scheel war zu diesem Zeitpunkt noch Außenminister und seine Wahl zum Bundespräsidenten acht Monate entfernt, dennoch mutete sein Text bereits präsidial an. Das lag zum einen an der verabredeten Arbeitsteilung – Bundeskanzler Willy Brandt sollte eine Woche später an gleicher Stelle die Grundzüge der bundesdeutschen Politik in einem Sieben-Punkte-Programm vorstellen. Zum anderen war es aber auch Walter Scheel selbst, der seine staatstragende Rolle bei der Aufnahme der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen mit der denkbar größten Referenz ausfüllte: „Der Mensch als Maß aller Dinge.“

Keine Anerkennung der deutschen Teilung

Vor Scheels Plädoyer für internationale Zusammenarbeit im Namen der Menschenrechte stand jedoch die innen- wie außenpolitisch wichtigste Botschaft des Tages, die Erklärung, was dieser Beitritt ausdrücklich nicht war: eine Anerkennung der deutschen Teilung. Das Gewicht seiner Worte erschließt sich beim Blick auf die langwierige Vorgeschichte der Ostpolitik und die Reihe von bi- und multilateralen Abkommen, die dieser Rede vorangegangen waren: die Verträge von Moskau und Warschau 1970, das Viermächteabkommen über Berlin 1971, der Verkehrsvertrag und der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1972.

„UNO-Junktim“, China-Politik und Anerkennungswelle der DDR

Auch wenn die Verhandlungsführung hierfür stark vom Unterhändler Egon Bahr („Wandel durch Annäherung“) geprägt worden war, so ist es doch in der Rückschau immer wieder auch Scheel, der dafür seit Durchsetzung der sozialliberalen Koalition 1969 Türen geöffnet und Chancen genutzt hatte. So ging das „UNO-Junktim“ auf ihn zurück, wonach der Beitritt beider Staaten zeitlich erst nach erfolgreichem Abschluss eines Grundlagenvertrags vorgesehen werden durfte, also erst nach einer Neudefinition der deutsch-deutschen Beziehungen. Scheels etwa zeitgleiche Reise nach China 1972 war nicht von langer Hand geplant, fügte sich schließlich aber ebenso gut in das neue Bild bundesdeutscher Außenpolitik. Der frühere CDU-Außenminister Gerhard Schröder hatte kurz zuvor – von der Oppositionsbank aus – als erster Bonner Politiker Peking besucht und geglaubt, mit dem vermeintlich schärfsten Kontrast zur Hallstein-Doktrin einen Coup zu landen. Für Scheel stand China eigentlich erst deutlich später auf seiner Liste, er reagierte nun jedoch schnell. Als er zeitnah ebenfalls in Peking eintraf, konnte er kraft seines Amtes als Außenminister tun, was einem Oppositionsvertreter nicht möglich war: diplomatische Beziehungen aufnehmen und damit Geschichte schreiben. Die Hallstein-Doktrin von 1955, nach der es die Bundesrepublik als unfreundlichen Akt interpretierte, wenn andere Länder mit der DDR diplomatische Beziehungen aufnahmen, und daraufhin eigene versagte, war schon seit Jahren wegen mangelnder Umsetzbarkeit in der Kritik und von Bundeskanzler Brandt de facto außer Kraft gesetzt worden. Aber mit dem neuen Beziehungsstatus Bonn-Peking hatte Scheel der Welt diese Neuausrichtung so plastisch wie niemand vor ihm vor Augen geführt.  

Die Monate vor dem Beitritt zu den Vereinten Nationen gestalteten sich für beide deutsche Staaten hoch dynamisch. Die DDR erlebte schon 1972 eine regelrechte „Anerkennungswelle“ durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit 24 Staaten, darunter fünf westliche Industrieländer – Australien, Belgien, Österreich, Schweden und die Schweiz. Und Ende 1972 nahm auch die DDR am Auftakttreffen der KSZE teil, der blockübergreifenden Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die sich als Verhandlungsprozess über zwei Jahre erstrecken, mit der epochemachenden Helsinki-Akte abgeschlossen werden und in die Gründung der OSZE münden sollte.

Erinnerung an den Völkerbund

Angesichts der dichten Taktung so bedeutender internationaler Ereignisse überrascht es aus heutiger Sicht zunächst ein wenig, dass Walter Scheel seine Rede in New York mit einem weiten Rückgriff auf den Völkerbund begann. Sollte der Zuhörerschaft im Saal und großen Teilen der politisch interessierten Weltöffentlichkeit nicht klar gewesen sein, wie sehr sich deutsche Außenpolitik – in West wie Ost – seither verändert hatte? In solchen Momenten lohnt es sich, ein paar Zahlen hinzuzuziehen. Die Gründung beider deutscher Staaten lag 1973 erst 24 Jahre zurück. Die Alterskohorte derer (fast ausschließlich Männer), die in dunklen Anzügen das diplomatische Parkett dominierten, hatten Gustav Stresemann zwar kaum persönlich erlebt, das vergebliche Mühen um Frieden in Europa und den vom Deutschen Reich entfachten Zweiten Weltkrieg mit Millionen Opfern aber noch sehr präsent im Gedächtnis. Was heute rückblickend so klar und konsequent erscheint – dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen sollte –, war es im Lichte von 1973 längst nicht für alle.

Völkerrechtlicher Schlüsselsatz

Walter Scheel tat also gut daran, weit auszuholen, und er tat es zu Beginn der Ansprache sogar im Namen seines ebenfalls anwesenden Amtskollegen aus der DDR: „Ursprung und Opfer des Krieges, geteilt ohne eigenes Zutun, nun in zwei Staaten lebend, und ungewiß einer gemeinsamen Zukunft.“ Sein anschließendes Wir beschreibt die „Sorge“ beider deutscher Staaten, dass ihr Beitritt zu den Vereinten Nationen als Resignation, als Absage an die deutsche Einheit betrachtet werden könnte. Kurz darauf der völkerrechtliche Schlüsselsatz im Manuskript: „Die Bundesrepublik Deutschland wird weiter auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken, in dem das deutsche Volk seine Einheit in freier Selbstbestimmung wiedererlangt.“

Diese Formulierung lehnt sich nicht nur an die Präambel des Grundgesetzes, Walter Scheel hatte sie fast wortgleich schon in seinem „Brief zur deutschen Einheit“ verwendet, den er 1970 seinem Verhandlungspartner mit nur einer, nämlich seiner Unterschrift als Anlage zum Moskauer Vertrag schickte, während politische Gegner wie CDU-Oppositionsführer Rainer Barzel diese Zeilen als juristisch irrelevant klassifizierten. Scheel war von seinem Tun noch Jahre später so überzeugt, dass er den Brief auswendig zitieren konnte: „Die Bundesregierung stellt fest, dass der zu unterzeichnende Vertrag nicht im Widerspruch steht zu der Absicht der Bundesregierung, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung die Einheit wiedererlangt.“ Wie oft wurde diese Formel von bundesdeutschen Diplomaten wiederholt. Und wie wenige Menschen weltweit konnten oder wollten sich vorstellen, dass sie einmal Realität werden würde.

Vollständiges Manuskript der Rede von Walter Scheel vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 19. September 1973