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Hundert-Tage-Bilanz
Argentinien: Im Zeichen des Virus

Unsere Argentinien-Experten Dr. Lars-Andre Richter und Marcelo Duclos bilanzieren über die ersten hundert Tage von Präsident Alberto Fernández
Alberto Fernández & Cristina Fernández de Kirchner
Alberto Fernández, Präsident Argentiniens spricht vor dem Präsidentenpalast Casa Rosada in Buenos Aires während einer Großveranstaltung nach seinem Amtsantritt. Rechts steht Cristina Fernández de Kirchner, Vizepräsidentin. © picture alliance/dpa-Zentralbild

Die Wahl zum Präsidenten gelang Alberto Ángel Fernández gleich im ersten Anlauf. Gut 48 Prozent der Stimmen holte er im ersten Wahlgang Ende Oktober vergangenen Jahres. Mauricio Macri, der liberal-konservative Amtsinhaber, der sich um eine Wiederwahl bemühte, landete abgeschlagen auf Platz zwei. Eine Stichwahl war nicht mehr nötig; 45 Prozent reichen bereits im ersten Durchgang für den Wahlsieg.

An einem hitzeschweren Frühlingstag im Dezember legte Fernández im Kongresspalast im Herzen von Buenos Aires seinen Amtseid ab, an seiner Seite die neue Vizepräsidentin, Cristina Fernández de Kirchner, die selbst acht Jahre als Staatschefin fungiert hatte, von 2007 bis 2015.

Die traditionelle Hundert-Tage-Bilanz fällt in die Zeit des Kampfes gegen die Corona-Pandemie. Anfang März war der erste Infektionsfall in Argentinien bekannt geworden. Bereits eine Woche später musste, wer aus Europa oder einer anderen Krisenregionen einreiste, für zwei Wochen in häusliche Quarantäne. Seit dem 20. März, dem ersten Tag des astronomischen Herbsts auf der Südhalbkugel, gilt auch in Argentinien eine Ausgangssperre. Zwar war die Zahl der registrierten Erkrankungsfälle an diesem Tag mit knapp zweihundert noch relativ gering. Zu groß war allerdings die Sorge, eine unkontrollierte Ausbreitung des Virus könnte das Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Belastbarkeit führen. Argentinien ist historisch und kulturell stark mit Italien und Spanien vernetzt. Mit großer Sorge registriert man in Buenos Aires, mit welch erbarmungsloser Schnelligkeit die Erkrankungs- und Todeszahlen in beiden Ländern gestiegen sind.

Korporatismus der Mussolini-Zeit

Die Vorstellung mag derzeit schwerfallen, aber auch in Argentinien gab es ein Leben vor der Pandemie. Wie also fällt sie aus, die Bilanz der noch weitgehend Corona-freien ersten einhundert Tagen der Präsidentschaft Fernández?

Mit dem Rechtsprofessor und ehemaligen Kabinettchef, in Argentinien eine Art Ministerpräsident, bezog nach einem vierjährigen Intermezzo wieder ein Peronist die Casa Rosada, den Amtssitz des Präsidenten in Buenos Aires. Fassen lässt sich der Peronismus nur schwer. Er ist ein weltanschaulich und politisch-programmatisch äußerst dehnbares Instrument der Machtorganisation und des Machterhalts, der sich in seinen Anfangsjahren in den 1940ern vor allem am Korporatismus des Italien der Mussolini-Zeit orientierte.

Wahlsieg trotz Cristina Kirchner

Die Jahre in der Opposition haben den notorisch zerstrittenen, immer wieder in Gruppen und Grüppchen zerfallenden Peronismus ein wenig diszipliniert. Fernández gilt als Vertreter des eher moderaten Flügels. Seine Kandidatur im Vorjahr war ein klassischer Kompromiss. Cristina Kirchner, die allzu gerne selbst noch einmal an der Staatsspitze gestanden hätte, galt aufgrund ihres linkspopulistischen Credos, ihrer exzentrischen Persönlichkeit sowie Ermittlungen in einigen Korruptionsfällen, schlichtweg als nicht mehrheitsfähig. Sie ließ Fernández den Vortritt und beschied sich mit der Rolle der Kandidatin für das Amt der Stellvertreterin. Insbesondere um Immunität bei den Ermittlungen zu erlangen.

Eine Herausforderung, die den Präsidenten seit dem ersten Amtstag begleitet, ist die chronisch hohe Staatsverschuldung; 2019 betrug sie knapp über neunzig Prozent des Bruttoinlandprodukts. Schon Mauricio Macri, Fernández‘ Vorgänger, investierte viel Zeit und Energie in den Kampf gegen die Verschuldung, ohne freilich jemals den Mut zu radikalen wirtschafts-, fiskal- und sozialpolitischen Reformen entwickelt zu haben.

Den politischen Farbwechsel überstanden

Den Staatsbankrott abwenden, das war auch das Ziel von Frente de Todos, des Parteienbündnisses, an dessen Spitze Fernández im vergangenen Jahr in den Wahlkampf zog. Dieses Ziel mag richtig sein, der eingeschlagene Weg allerdings ist problematisch: Fernández setzt auf Steuererhöhung, während die Lohn- und Rentenzuwächse von der Inflation – diese hat den politischen Farbwechsel im Dezember schadlos überstanden – zunichte gemacht werden. Die Privilegien der Bediensteten des öffentlichen Sektors, mit dem Peronismus von jeher eng verbandelt, blieben derweil unangetastet. Der private Sektor hat das Nachsehen. Auch der traditionell exportorientierte Agrarsektor leidet unter der wachsenden Steuerlast. Gleichzeitig wurde die Kapitalisierung der Wirtschaft zurückgefahren

Auch beim Internationalen Währungsfond ist Argentinien hoch verschuldet. 2018 hat der IWF dem Land ein Darlehen in Höhe von rund 56 Millarden US-Dollar bewilligt. Ein Großteil des Geldes ist ausgezahlt. Zwar hat Fernández Bedenken zerstreut, Argentinien könne sich wie im Rahmen der Wirtschaftskrise 2001 seinen Tilgungsverpflichtungen entziehen. Der IWF war zufrieden. Die privaten Gläubiger indes warten nach wie vor auf einen konkreten, die Rückzahlung ihrer Kredite regelnden Fahrplan. Das von J.P. Morgan ausgewiesene Länderrisiko steigt, und das in dem Moment, als die Corona-Pandemie Argentinien erreicht: von zwei- auf  viertausend Basispunkte.

Risiko einer Hyperinflation

In Zeiten der Krise rückt man zusammen, auch in Argentinien. Der Abwehrkampf gegen das Corona-Virus wird auf breiter, parteien- und bündnisübergreifender politischer Bais geführt. Wer handelt, kann an Statur gewinnen. Fernández handelt. In seiner Partei steht er gegenwärtig ohne ersthaften Konkurrenten dar. Die Opposition ist nach der Wahlniederlage im vergangenen Jahr vor allem mit sich beschäftigt. Die Möglichkeit, sich in der Corona-Krise mit neuen Köpfen oder Ideen zu profilieren, nutzt sie nicht. Stattdessen bemüht sie sich um ein staatstragendes Auftreten und fordert die Öffentlichkeit dazu auf, den Anweisungen der Behörden Folge zu leisten. Selbst Cristina Kirchner, von der es lange hieß, sie warte nur darauf, Fernández zu beerben, hält sich auffallend zurück.

Der Burgfrieden dürfte allerdings nicht lange währen. Wenn die Generalquarantäne aufgehoben ist und das Leben in seine alten Bahnen zurückgefunden hat, werden Wirtschaftsthemen wieder die Schlagzeilen dominieren. Für die Finanzierung der Hilfsprogramme für die unter der Corona-Krise leidenden Kleinunternehmer soll die Gelddruckmaschine angeworfen werden. Das Risiko einer Hyperinflation dürfte dann weiter steigen. Ferner dürfte der globale Trend dahin gehen, risikoreiche Anlagenmöglichkeiten zu meiden und stattdessen konservativere Investitionen zu tätigen. Gutes verheißt all das nicht für Argentinien.

Harte, aber schnelle Reaktion

Fernández und seine Mannschaft haben hart, aber vergleichsweise schnell auf die Corona-Herausforderung reagiert. Zwar dürfte die Infiziertenzahl in den nächsten Wochen noch steigen, wahrscheinlich aber nicht ein derart schwindelerregendes Niveau erreichen wie in China oder Teilen Südeuropas. Die Grenzen zum deutlich stärker betroffenen Brasilien dürften noch eine Weile dicht bleiben. Im Inland indes könnte in absehbarer Zeit wieder Normalität herrschen. Es bliebe zu wünschen, dass ein halbwegs erfolgreicher Kampf gegen das epochale Corona-Phänomen die politischen Akteure in Buenos Aires dazu ermutigt, auch den strukturellen ökonomischen Problemen endlich mit nachhaltigen, liberalen Lösungen beizukommen.

 

Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Buenos Aires

Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im Stiftungsbüro Buenos Aires und verantwortet dort u.a. den Bereich Kommunikation