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Deutsche Krisen
1923 – Ein Katastrophenjahr für unsere Urängste

Inflation 1923: Berliner Bevölkerung umlagert einen Kartoffelhändler, der seine Ware vom Wagen unter Polizeischutz verkauft.

Inflation 1923: Berliner Bevölkerung umlagert einen Kartoffelhändler, der seine Ware vom Wagen unter Polizeischutz verkauft.

© picture-alliance / akg-images | akg-images

Dieser Essay ist aus der Liberal 2/23, die Anfang April erscheint.

Dass die Dinge zunächst einmal schlimmer werden, bevor sie sich wieder verbessern, darf bereits jetzt als bestimmende Erwartung des Jahres 2023 festgehalten werden. Ja, im Grunde taugte dieser Kalenderspruch als Rahmung der gesamten anstehenden Reformdekade. Und zwar auf allen relevanten gesellschaftlichen wie politischen Gebieten, international wie national. Denn ob Kriegsgeschehen oder Migrationsherausforderung, Inflation oder Infrastruktur, Wohnungsnot oder Verkehrswende, Klima-Kleberei oder drohender Klimanotstand: Im Zeichen der Zeitenwende wird nur ein Kind an schnelle Lösungen, gar unmittelbar rettende Ausgänge glauben. Die hoffnungsgetränkte Durchhalteparole bleibt dabei notwendig ambivalent. Schließlich besteht in einer freien Welt stets die Möglichkeit, dass die genannten Krisen, anstatt sich ins Positive zu wenden, sich weiter intensivieren und anstacheln, bis eine zum Bersten gespannte Gesamtkonstellation zum Kollaps bestehender Systeme, Regierungsverhältnisse, gar Regierungsformen führen mag. Uns an diese Möglichkeit zu gemahnen, taugt sogenannte Geschichte. Und im deutschen Kontext anno 2023 ganz offenbar nichts eindrücklicher als das Weimarer „Katastrophenjahr“ 1923. Bereits ein oberflächlicher Blick auf den Sachbuchmarkt der letzten Monate beweist die Angstlust, mit der die Jährung hierzulande aufgeladen wird. Kein deutscher Großverlag, der sich den Kitzel entgehen ließe: „1923 – Kampf um die Republik“, „Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund“, „1923 – Ein deutsches Trauma“, „Außer Kontrolle – Deutschland 1923“, „Im Rausch des Aufruhrs – Deutschland 1923“, „Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923“, „Totentanz – 1923 und seine Folgen“. So droht, gerade mit Blick auf das eigentliche Schicksalsjahr 1933, angestrebte Vergangenheitsbewältigung in faktische Vergangenheitsüberwältigung zu kippen.

Spiegelung der Gegenwart

Tatsächlich scheinen sich in den Polykrisen der Weimarer Traumajahre 1922/23 wesentliche Bruchstellen der Gegenwart aufs Unheimlichste zu spiegeln: 1923 als Jahr der Hyperinflation; 1923 als Jahr einer politischen Querfront, in der demokratiefeindliche Kräfte mit russischer Unterstützung von rechts und links gemeinsam auf den Umsturz hinarbeiten; 1923 als Jahr der Ruhr- und damit auch Energiekrise; 1923 als Jahr der migrationsbedingten Wohnungsnot; 1923 als Jahr, in dem über Thüringen wegen politischen Extremismus eine Reichsexklusion verhängt wird, sowie selbstverständlich das Jahr, in dem ein bis dato allenfalls durch querdenkerische Wirrheiten aufgefallener bayerischer Provinzextremist in einem Münchner Bürgerbräukeller die „nationale Revolution“ ausruft. Sowie auch das Jahr, in dem China und Russland ihren ersten engen Kooperationspakt schließen, in dem ein amerikanischer Präsident urplötzlich verstirbt, die Teilung von Irland und Nordirland beschlossen wird, in dem in ganz Asien gleich mehrere verheerende Erdbeben wüten; in dem die Türkei einen nationalen Putsch erlebt, im Iran mit revolutionären Folgen ein neuer Premierminister ins Amt kommt; in dem ein Astronom namens Edwin Hubble erstmals die Existenz von Himmelskörpern außerhalb der Milchstraße nachweist und, bevor ich das Allerwichtigste vergesse, in Deutschland das erste Radfahrerdenkmal der Welt eingeweiht wird. Potzblitz – wenn das mal alles kein Zufall, wenn das mal alles kein Omen ist! Oder aber schlicht das Ergebnis publizistisch-historischer Analogiezaubereien, die im Zeichen eines 100-jährigen Jubiläums marktgerecht mit deutschen Urängsten spielen.

Fatales Lob des Ausnahmezustands

Keinesfalls zufällig erscheint vor entwickeltem Hintergrund, dass auch die beiden wirkungsmächtigsten deutschen Denker des 20. Jahrhunderts sich ausgerechnet im Krisenwinter 1922/23 in einer Weise radikalisieren, die sie in dauerhafte Feindschaft zur Weimarer Republik, ja jedweder Rede von Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit stellen wird. Die Rede ist von Martin Heidegger und Walter Benjamin. Beide knapp über dreißig und als drohend arbeitslose Familienväter vom Fall ins ökonomische Nichts bedroht, preisen in ihren Schriften der Jahre 1922 und 1923 den „Ausnahmezustand“ sowie damit verbundene „Grenzsituationen“ als einmalige Chance, das ewig unmündige Hin und Her demokratischer Prozesse und deren „schuldlos-schuldhaftes“ Lavieren in lauen Kompromissen per klarem Schnitt hinter sich zu lassen. Anstatt im Angesicht der offenen Dysfunktionalität des Systems einfach weiter wählen zu gehen, sehen sie den Zeitpunkt gekommen, endlich eine radikale Entscheidung zu treffen. Anstatt nur Parteien zu unterstützen, Bewegungen zu preisen. Gefordert ist ein Existenzialismus der reinen Tat. Der Mut zum Sprung in ein neues, anderes System! Alles – nur kein „Weiter so“. Heideggers polit-philosophischer Werdegang von da ab ist bekannt. Er wird 1933 der NSDAP beitreten. Benjamin, als Jude ins Exil gezwungen, wird sich bis in die letzten Pariser Jahre und zu seinem Selbstmord im Jahre 1940 aber in einer geistigen Nähe zum Kommunismus aufhalten, die es der Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, deren eigentliche Gründergestalt Benjamin ist, noch bis in die späten Siebzigerjahre der Bundesrepublik unmöglich machen wird, ein affirmatives Verhältnis zur Bonner Republik und ihrer demokratischen Verfasstheit zu finden. Es war übrigens auch das Jahr 1923, in dem Ernst Cassirer, als einer der wenigen deutschen Philosophenprofessoren mit liberaler Gesinnung, in der Bibliothek Warburg der Freien Hansestadt Hamburg damit begann, eine philosophische Kritik mythischen Denkens zu schreiben. Deren zentrales politisches Anliegen lag darin, vor der eminenten Rückfallanfälligkeit einer jeden Kultur und Gesellschaft in letztlich magische Denkweisen zu warnen. Etwa im Zeichen eines dunklen Beschwörens rein rhapsodischer Ähnlichkeiten und Analogien, der Zahlenmystik und des Zahlenzaubers oder auch des freiheitsfernen Glaubens an „die Vorsehung“, „das Schicksal“, gar einen „auserwählten Führer“.

Flucht vor den Zumutungen der Freiheit

Auch Cassirer musste Deutschland im Jahre 1933 verlassen. Sein letztes Buch „Der Mythus des Staates“, im amerikanischen Exil geschrieben und 1946, ein Jahr nach seinem Tod, erschienen, analysiert die totalitäre Verdüsterung von Nationalsozialismus und Stalinismus als Rückfälle in magischmythisches Denken. Als selbstzerstörerische Flucht vor den Zumutungen der Freiheit, der Unübersichtlichkeit moderner Gegenwart sowie der genuinen Offenheit und damit auch Unsicherheit einer jeden menschlichen Zukunft. Auch diese deutsche Denk-Konstellation nahm also just 1923 ihren geistigen Ausgang. Was sich doch so alles in einem Jahre spiegelt und offenbart, wenn man nur ganz genau hinsehen will! Es bleibt in der Tat erstaunlich. Und mag gern auch uns Gegenwärtigen als Mahnung dienen. Nur eben nicht im Sinne eines schicksalhaften Wiederholungszwangs, einer lähmenden Angstschleife im Erinnern oder eines Schauderkitzels letztlich entmündigenden Analogiezauberns. Sofern es aus der Konstellation des Jahres 1923 eine besondere Lehre zu ziehen gibt, dann aus aufgeklärter Sicht wohl diese: Wer ernsthaft glaubt oder auch nur raunend nahelegt, Geschichte drohe sich schlicht zu wiederholen, offenbart damit ebenso offen seine illiberale Gesinnung wie derjenige, der selbst in größten Krisenzeiten fortschrittsblind davon ausgeht, die Dinge würden sich irgendwann schon wieder von selbst verbessern. So einfach ist es in einer offenen Welt nicht. Und sollte es auch niemals sein. Fast ist man deshalb geneigt, das beginnende Krisenjahr, ja die gesamte kommende Dekade, mit einem aufmunternden Kalendersprüchlein aus der Feder Erich Kästners zu rahmen. Ganz gewiss ebenfalls aus dem Jahre 1923: „‚Wird’s besser, wird’s schlimmer?‘ fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer – lebensgefährlich.“

Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Sein Buch „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ wurde 2018 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet.