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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Corona
Auch ein Lockdown light wäre katastrophal

Restaurants schließen, Veranstaltungen verbieten? Das wäre nicht nur ökonomisch falsch, sondern auch mit Blick auf das Infektionsgeschehen fragwürdig.
Berchtesgaden
Ein Streifenwagen der Polizei fährt zur Kontrolle der Maskenpflicht durch die leere Innenstadt von Berchtesgaden. © picture alliance/dpa | Lino Mirgeler

Der Geschäftsklimaindex sinkt, weltweit begeben sich die Börsenkurse auf Talfahrt, Unternehmen bereiten sich auf einen massiven Umsatzeinbruch vor und im Dienstleistungsgewerbe grassiert die Angst. Über alldem schwebt wie ein Damoklesschwert die Gefahr eines Lockdowns zur Einschränkung des öffentlichen Lebens.

Wir kennen dieses Szenario. Bereits im Frühjahr, nur wenige Monate zuvor, sahen sich die Politik und Wirtschaft mit den gleichen Problemen konfrontiert. Damals wie heute verbreitete sich das Coronavirus rasant, täglich wurden neue Rekordinfektionszahlen vermeldet. Was hat sich seitdem verändert? Leider viel zu wenig. Sicher, die Wissenschaft erzielt Erfolge im Kampf gegen das Virus – weltweit wird mit Hochdruck an einem Impfstoff geforscht.

Doch das ist nur ein schwacher Trost für die Hunderttausenden Gastronomen, Hoteliers, Soloselbstständigen und Kulturschaffenden, über deren wirtschaftliche Existenz derzeit auf beinahe wöchentlichen Sondergipfeln von Bund und Ländern entschieden wird. Wie bereits im Frühjahr fehlt eine klare politische Strategie im Umgang mit dem Virus – obwohl Epidemiologen seit Monaten vor einem erneuten Ansteigen der Infektionszahlen im Herbst und Winter warnen.

Es fehlt die statistische Evidenz

Die bisher im Eiltempo entschiedenen Maßnahmen – vom Beherbergungsverbot bis zur Sperrstunde – wirken vor diesem Hintergrund weder durchdacht noch sinnvoll. Das Gastgewerbe trug vor der Krise mit fast 90 Milliarden Euro Jahresnettoumsatz und mehr als 2,3 Millionen Beschäftigten als Jobmotor zur deutschen Wirtschaftskraft bei. In der Krise überzeugen Gastronomen mit ausgeklügelten Hygienekonzepten, um das Infektionsrisiko zu vermindern. Von den Regierungen in Bund und Ländern werden sie dafür jedoch aus nicht nachvollziehbaren Gründen abgestraft: Mit dem oft proklamierten „Lockdown-Light“ sollen Restaurants geschlossen und Veranstaltungen verboten werden. Und dass, obwohl der Großteil der Corona-Neuinfektionen auf private Familienfeiern zurückzuführen ist, nicht auf Exzesse in deutschen Restaurants. Ganz ähnlich sieht es in Kultureinrichtungen aus: Kinos, Theater und Konzerthallen mit einer festen Sitzordnung und professionellen Hygienekonzepten sind bisher nicht als Corona-Hotspots aufgefallen. Die statistische Evidenz, die diese drastischen Maßnahmen begründen könnte, ist schlicht nicht gegeben.

Ein „Lockdown-Light“ wäre daher nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht katastrophal, sondern auch mit Blick auf das Infektionsgeschehen fragwürdig. Ist es nicht sogar kontraproduktiv, wenn die Menschen sich ohne Rücksicht auf notwendige Maßnahmen auf öffentlichen Plätzen oder im Privaten treffen, statt in Restaurants oder Kultureinrichtungen mit intakten Hygienekonzepten?

Entscheidungen über die Existenz ganzer Wirtschaftszweige zu treffen, birgt eine kaum vorstellbare Last und Verantwortung mit sich – genau aus diesem Grund sollten sie nicht in der Hand einiger weniger Personen liegen. Auch die Politik kann in dieser historischen Krise immer nur auf Sicht entscheiden, doch gibt es harte ökonomische Fakten, die Orientierung bieten. Einer dieser Fakten lautet: Einen umfassenden zweiten Lockdown werden zahlreiche Unternehmen nicht verkraften. Auch andere Wirtschaftszweige, die sich bis dato als recht krisenresistent präsentiert haben, wären von einem Lockdown langfristig bedroht. Der jüngste Kursrutsch der SAP-Aktie, eigentlich einer der Gewinner der Krise, verdeutlicht, wie labil die Situation an den Märkten ist.

Ein Minimum an Einschränkung, ein Maximum an Wirkung

Erkennt man die ökonomische Relevanz bestimmter Branchen wie der Gastronomie oder des Kultursektors als gegeben an, ist ein Abwenden von der gegenwärtigen Lockdown-Mentalität der Bundesregierung schlicht alternativlos. Zwar könnte der Staat durch neue Milliardenzuschüsse versuchen, die einzelnen Unternehmen dauerhaft künstlich durch die Krise zu tragen, bis ein Impfstoff gefunden wird. Da aber niemand wissen kann, wann diese besseren Zeiten anbrechen, wäre eine solche Maßnahme aufgrund der wachsenden Verschuldung nicht nur kaum finanzierbar, sondern auch eine unverhältnismäßige Bürde für alle nachfolgenden Generationen, die über Jahrzehnte die angestauten Altlasten mit ihrem erwirtschafteten Einkommen zurückzahlen müssten. Wenn diese Woche vermeldet wird, die Lufthansa verbrenne nun nicht mehr eine Million Euro, sondern „nur“ noch eine halbe Million Euro pro Stunde (!), könnte das beinahe humorvoll anmuten, wären die finanziellen Dimensionen nicht so erschreckend. Zur Erinnerung: Erst im Mai hatten sich der Bund und die Lufthansa auf ein Rettungspaket in Höhe von neun Milliarden Euro verständigt – der Stellenabbau kam trotzdem und die Situation der Airline ist düsterer denn je. So zeigt sich: Die Modelle „Lufthansa“ und „TUI“ mit Staatsbeteiligungen und Milliardenkrediten sind in dieser Krise nicht zukunftsfähig.

So bleibt aus ökonomischer Sicht keine andere Wahl: Ein Lockdown, wie wir ihn im März erlebt haben und wie er gerade in einigen europäischen Nachbarländern verhängt wird, muss vermieden werden. Stattdessen braucht es ein Minimum an ökonomischen und individuellen Einschränkungen, mit denen ein Maximum beim Bevölkerungsschutz erzielt werden kann. Die Maskenpflicht, das Abstandsgebot und die umfassende Einführung von Corona-Tests sind solche Maßnahmen. Kurzfristig können auch staatliche Zuschüsse zielgerichtete Unterstützung für kleine Unternehmen und Selbstständige leisten – langfristig bietet aber auch dieser Weg keine Lösung. Die Regierungen von Bund und Ländern müssen daher einen klaren Maßnahmenplan entwickeln, in dem verschiedene Szenarien auch über das Jahr 2020 hinaus einbezogen werden. Sonst werden wir im kommenden Jahr erneut vor der Frage stehen: Wie viel Lockdown verträgt die Wirtschaft?

 

Der Artikel erschien erstmals am 28. Oktober 2020 auf ZEIT online und ist hier zu finden.