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Argentinien
Schwanken als Lebensform: Argentinien vor neuerlicher Kabinettsumbildung

Der argentinische Präsident Alberto Fernandez zusammen mit Cristina Fernandez de Kirchner und Sergio Massa.

Der argentinische Präsident Alberto Fernandez zusammen mit Cristina Fernandez de Kirchner und Sergio Massa.

© picture alliance / EPA | Juan Ignacio Roncoroni / POOL

Sergio Massa wird Superminister. In seine Zuständigkeit sollen die bislang eigenständigen Ressorts Wirtschaft, Entwicklung und Landwirtschaft fallen, drei Schlüsselposten in einem Land wie Argentinien mit desaströsen Wirtschaftsdaten, maroder Infrastruktur und dem Agrarsektor als Lebensader. Massa, der Neue am Kabinettstisch, ist ein Mann mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein und ambitionierten Zielen, vor allem hinsichtlich der eigenen Karriereplanung. Superminister - dass es darunter nicht ging, war Präsident Fernández klar. Massa war bislang Präsident des Repräsentantenhauses, des nationalen Parlaments. Als solcher war er de jure die Nummer drei im Land, hätte laut Verfassung das Amt des Staatsoberhaupts übernommen, falls Präsident und Vizepräsidentin zur gleichen Zeit zurücktreten, abgesetzt werden oder versterben.

Die Machtfülle, über die Massa auf dem neuen, maßgeschreinerten Posten verfügt, macht ihn nun auch de facto zur drittwichtigsten Figur auf dem politischen Schachbrett des krisengeschüttelten Landes zwischen Aden und Atlantik. Mit seiner Entscheidung, Massa in den Regierungskader aufzunehmen, geht Präsident Fernández ein schwer zu kalkulierendes Risiko ein. In Argentinien kämpft man gerne mit harten verbalen Bandagen. Seine aus tiefster Seele entspringende Abneigung gegen seinen neuen Chef und dessen Vize Cristina Kirchner, hat Massa in den zurückliegenden Jahren bei zahlreichen Gelegenheiten wortreich zelebriert. Es ist nicht damit zu rechnen, dass er sein Temperament fortan zügelt und die Rangordnung innerhalb des Kabinetts respektiert.

Wie dramatisch es um Argentinien bestellt ist

Dass der Präsident einem prominenten, in Sache und Ton harten innerparteilichen Gegner ein Ressort der Superlative zugesteht, zeigt, wie dramatisch es um Argentinien mittlerweile bestellt ist. Fernández ist seit knapp drei Jahren im Amt. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2019 siegte er zusammen mit der linkspopulistischen Cristina Kirchner als Kandidatin für das Vizepräsidentenamt, bereits im ersten Wahlgang. Das vom Parteienbündnis Frente de Todos (frei übersetzt „Volksfront“) unterstützte Tandem war gegen den seit 2015 amtierenden liberal-konservativen Mauricio Macri angetreten. Macris weltanschaulich äußerst heterogenes Parteienbündnis Juntos por el Cambio (JP, „Gemeinsam für den Wechsel“) wurde auf die Oppositionsbänke verwiesen.

Macri und JP hatten vor drei Jahren die Quittung dafür bekommen, dass sie die im Wahlkampf 2015 zugesicherten Strukturreformen in den folgenden vier Jahre nicht einmal in Ansätzen umgesetzt hatten. Mittlerweile führt in Buenos Aires wieder der Peronismus das Wort. Auch er macht dabei keine gute Figur. Bei den Zwischenwahlen Ende vergangenen Jahres haben ihn die Wähler abgestraft.

Argentiniens Probleme sind struktureller Natur: ein aufgeblähter öffentlicher Sektor, ein wachsender Schuldenberg, eine Inflation, die in diesem Jahr ein dreistelliges Prozentniveau erreichen könnte, mafiöse Strukturen in vielen Gewerkschaften und Staatsbetrieben, ein überregulierter Arbeitsmarkt, ein investorenfeindliches Klima. Für all diese Probleme tragen der Peronismus und seine klientelistische, umverteilungsorientierte politische Philosophie die Verantwortung. Es wäre daher eine handfeste Überraschung, wenn ausgerechnet eine peronistische Regierung von ihren politischen Prinzipien abrücken würde.

Persönliche wie politische Differenzen

Fernández und Kirchner haben sich nie als Team verstanden. Im Wahlkampf vor drei Jahren bildeten sie eine Zweckgemeinschaft: Er, ein Mann ohne Eigenschaften, punktete bei den moderaten, von Macri enttäuschten Wechselwählern der politischen Mitte, sie, eine Kreuzung aus Operettendiva und weiblichem Volkstribun, mobilisierte die für demagogische Slogans empfängliche peronistische Stammwählerschaft. Harmonie bestand zwischen den beiden zu keinem Zeitpunkt; allein der Wille zur Macht hielt sie zusammen. Spätestens nach dem Wahlsieg traten die Differenzen, persönliche wie programmatische, wieder offen zutage. Beide versuchten, die Schaltstellen in den Ministerien und Behörden mit den jeweiligen Anhängern zu besetzen. Seit knapp drei Jahren beargwöhnen, blockieren und streiten sich die Anhänger der beiden Lager. Politische Entscheidungsprozesse werden dadurch komplizierter, es ist fast unmöglich geworden, Ergebnisse zu erzielen.

Kirchner geht dabei bei der Besetzung von wichtigen Posten überlegter, zum Teil auch skrupelloser vor als Fernández. Anfang Juli brachte sie nach dem Rücktritt von Wirtschaftsminister Martín Guzmán, einem Anhänger des politisch moderateren Präsidentenlagers, eine eigene Kandidatin ins Spiel: Silvina Batakis, eine seinerzeit weitgehend unbekannte Funktionärin aus der Provinz Buenos Aires. Die Personalie ließ den Kurs des Pesos auf dem Schwarzmarkt weiter verfallen. Angst ging um im Land: vor einer bleiernen Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen Ende 2023, vor Unruhen und einer Destabilisierung des Systems.

Alternative zum linksdemagogischen Kirchnerismus

Sergio Massa fehlt es an Popularität. Die Straße mag ihn nicht. Sein Image ist das eines opportunistischen Egomanen. Es dürfte ihm einstweilen also schwerfallen, die Menschen davon zu überzeugen, etwaige politische Reformvorhaben zu unterstützen oder gar beim nächsten Urnengang zu honorieren. Seine politische Karriere hatte er in den 1980er-Jahren in der liberalen Partei UCeDé (Unión del Centro Democrático, „Union der demokratischen Mitte“) begonnen. Anfang der Nullerjahre war er zu einem Anhänger Nestor Kirchners geworden, des Ehemanns von Cristina. Als diese ihrem Mann nach den Wahlen 2007 selbst an die Staatsspitze folgte, berief sie Massa zum Kabinettschef. Dieser Posten entspricht etwa dem des Premierministers in Frankreich, dessen Institutionengefüge dem argentinischen ähnelt. Massa trat rund zwei Jahre später nach Differenzen mit seiner Chefin zurück und zog schließlich als Abgeordneter der Provinz Buenos Aires ins Parlament ein. Hinterbänkler blieb er dort nicht lange.

Während Massa außerhalb des Peronismus als das kleinere Übel wahrgenommen wird, als systemimmanente Alternative zum linksdemagogischen Kirchnerismus, lehnt ihn das Gros der Gefolgsleute der Vizepräsidentin als Frontfigur des verhassten rechten Flügels des Peronismus ab. Auch auf der Straße zeigt man ihm eher die kalte Schulter. In Unternehmer- und Bankierskreisen indes stehen ihm die Türen offen, und das nicht nur in Argentinien. Sein, freundlich formuliert, flexibler, weniger ideologiegeleiteter Politikstil hat daran einen Anteil. Immerhin: Schon die Ankündigung seiner Ernennung zum Superminister für Wirtschaft, Produktion und Landwirtschaft sorgte für Ruhe an den Märkten. Die Kurse von Staatsanleihen und inländischen Aktien stiegen, der Schwarzmarktkurs der argentinischen Währung, ein wichtiger Indikator, erholte sich ebenfalls zumindest ein wenig.

„Sie schwankt, aber sie geht nicht unter“

Viel war in den zurückliegenden Wochen bereits über einen möglichen Rücktritt des Präsidenten oder einen vorgezogenen Wahltermin spekuliert worden. Mit dem Umbau des Kabinetts hat Fernández sich womöglich eine Atempause verschafft. Stabilisiert sich die wirtschaftliche Lage, hätte er einen Erfolg in einer politischen Kerndisziplin vorzuweisen. Dieser Erfolg wäre allerdings auch derjenige des neuen Superministers. Und der hat ebenfalls die Casa Rosada, den Amtssitz des argentinischen Präsidenten, im Blick, spätestens nach dem regulären Urnengang 2023. Alles, was in den nächsten Tagen und Wochen geschieht, ist damit schon Teil eines sehr früh beginnenden Wahlkampfes.

„Fluctuat nec mergitur“ - “Sie schwankt, aber sie geht nicht unter”. Der Wahlspruch im Stadtwappen von Paris könnte auch derjenige Argentiniens sein, dessen Hauptstadt Buenos Aires dem französischen Vorbild von je her nacheifert. Auch Argentinien schwankt seit Jahrzehnten mal stärker, mal schwächer, derzeit wieder etwas stärker. Untergehen wird es höchstwahrscheinlich aber auch diesmal nicht.

Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien und Paraguay. Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires. Aiko Vredenborg studiert Geschichte an der Universität Potsdam und absolviert derzeit ein Praktikum im FNF-Büro Buenos Aires.