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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Nationalsozialismus
Vor 90 Jahren: Hitler wird Reichskanzler

Mit der Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten beginnt das Ende der Weimarer Republik. Eine historische Zäsur.
30.1.1933
© picture-alliance/ akg-images

„Die Auslieferung des Staates“ – so nennt der renommierte Historiker Heinrich August Winkler in seiner vor 30 Jahren erstmals publizierten Geschichte der Weimarer Republik jenes 18. Kapitel und letzte des Buches, das die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler behandelt. Der Titel trifft ins Schwarze: Jene Vorgänge, die Hitler vor 90 Jahren ans Steuer der Regierung brachten, muten an wie eine wehrlose Kapitulation der Demokraten gegenüber Hitlers legalistischen Weg zur Macht. Die Republik war müde geworden. Sie hatte nicht mehr die innere Kraft, sich der Eroberung durch die Nazis wirksam entgegenzustellen. Gleichwohl war der Niedergang der Weimarer Demokratie keineswegs zwingend. Es gab konkrete Gründe für das Scheitern der Republik, wirtschaftliche und politische, aber einen „historischen Determinismus“ gab es nicht.

Ökonomische Krise

Um die wirtschaftlichen Gründe zu erkennen, genügt ein Blick auf das Elend der Erwerbslosigkeit. Die Zahl der Arbeitslosen lag im Jahr 1932 bei über 5 ½ Millionen, das war ein Anteil von rund 30 Prozent aller Erwerbspersonen und fast 44 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder, die sich vor allem auf Arbeiter und Angestellte der Industrie konzentrierten. Dieser war in den drei Jahren der Weltwirtschaftskrise 1930-32 dramatisch gestiegen, weit stärker als in Frankreich und Großbritannien. Der Grund: Die Große Depression, die in den USA nach dem Börsenkrach im Oktober 1929 ab 1930 einsetzte, übertrug sich durch die Kanäle der internationalen Kapitalmärkte in aller Schärfe auf Deutschland – jener Nation, die seit Kanzler Stresemanns erfolgreicher Währungsreform im Herbst 1923 und dem Dawes-Plan im Frühjahr 1924 den stärksten Zufluss amerikanischen Finanzkapitals erlebte. Die Blüte der „goldenen“ Stresemann-Jahre erwies sich allerdings als trügerisch, als 1929 die amerikanische Zentralbank zur Bekämpfung der Börsenspekulation die kurzfristigen Zinsen hochschraubte und das Finanzkapital nach New York zurückströmte. Deutschland wurde deshalb mit dem Börsenkrach so stark in den Abwärtsstrudel gerissen wie keine zweite Nation.

Wer war schuld daran? Zum einen vor allem die ausgabenfreudigen deutschen Kommunen, die den Spielraum für zusätzliche Verschuldung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre für ambitiöse Ausgabenprojekte nutzten – Messehallen und Museen, Brücken und Grünanlagen bis hin zu innovativem sozialen Wohnungsbau. Dies geschah trotz der nachdrücklichen Warnungen von Parker Gilbert, dem amerikanischen Generalagenten für Reparationszahlungen, dessen Mahnungen vor den Risiken einer Überschuldung von Außenminister Gustav Stresemann nachdrücklich unterstützt wurden. Zum anderen war es die Regierung von Heinrich Brüning, dem „Hungerkanzler“, der nach dem Zusammenbruch des Booms in den Jahren 1930 bis 1932 mit einer extrem rigiden Sparpolitik antwortete, was die deflationäre Lage noch massiv verschlimmerte. Allerdings entsprachen diese politischen Antworten auf die wirtschaftlichen Wechsellagen durchaus dem Zeitgeist: In den USA war die Einfallslosigkeit der Politik und deren wirtschaftliche Folgen ähnlich, aber sie führte bei den Wahlen im November 1932 zu nicht mehr als einem demokratischen Regierungswechsel – von dem Republikaner Herbert Hoover zum Demokraten Franklin D. Roosevelt. Was war also in Deutschland anders?

Politisches Versagen

Die Antwort liegt in dem, was man die demokratische Anfälligkeit des Landes nennen könnte. Die Details der Windungen bis hin zur Regierungsbildung, die Hitlers Kanzlerschaft vorausgingen, sind in ihrer Komplexität historisch bestens belegt und schon oft erzählt worden, vielleicht am eindrucksvollsten von Heinrich August Winkler in seinem erwähnten klassischen Buch über die Weimarer Republik. Auffallend ist dabei, dass von praktisch allen demokratischen politischen Kräften sowie den Wirtschaftsverbänden und den Gewerkschaften vor allem eine verfassungsmäßige Lösung verlangt wurde – und Hitlers Kanzlerschaft war ganz eindeutig eine solche Lösung und kein „Putsch“. Nur vereinzelte Stimmen aus der Sozialdemokratie und natürlich die Kommunisten wetterten gegen die Gefahr einer faschistischen Diktatur. Die meisten der maßgeblichen Politiker sahen in einem Kabinett Hitler eine zwar scharf rechts gerichtete Regierung, aber keine Wendemarke der Weimarer Demokratie hin zur Diktatur. Dies mag auch darin begründet liegen, dass im ersten Kabinett Hitler – bestehend aus Kanzler und 10 Ministern - nur drei Mitglieder von der NSDAP gestellt wurden (Wilhelm Frick, Hermann Göring und eben Adolf Hitler); sechs dagegen waren parteilos und zwei Mitglieder der Deutschnationalen Volkspartei. Es sah also nach all den Wirren der verschiedensten Regierungsbildungen der Monate und Jahre zuvor eher wie die Fortsetzung einer Tradition aus: nach der vorangegangenen Regierung unter Kurt von Schleicher also ein deutlicher Schub nach rechts, aber eben doch keine rechtsradikale Revolution.   

Ein fataler Irrtum, der tatsächlich auch im Nachhinein schwer zu verstehen ist. Denn allein schon eine flüchtige Lektüre von Hitlers „Mein Kampf“ hätte genügt, die ungeheuer menschenverachtende und zerstörerische Ideologie inklusive des tiefsitzenden Antisemitismus der Nazis und deren „Führer“ zu verdeutlichen. Ganz offensichtlich wurde da ein rechtsextremer Ideologe zum Kanzler ernannt, der mit einer liberal verfassten Demokratie nichts, aber auch gar nichts im Sinn hatte.

Zudem lagen Hitlers politische Strategie und sein taktisches Vorgehen recht offen zutage. Er hatte nämlich in den vorausgehenden Verhandlungen nicht nur durchgesetzt, dass er Kanzler wird, sondern auch, dass es zu Neuwahlen kommen müsse, die dann ja auch am 5. März 1933 tatsächlich stattfanden. Sein Ziel war dabei, die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag danach so verändert zu finden, dass er für ein Ermächtigungsgesetz die nötige Zweidrittelmehrheit bekommen würde, um dann die Weimarer Demokratie zu zerstören. Diese dreistufige Strategie – zunächst Kanzlerschaft, dann Neuwahlen und schließlich Ermächtigungsgesetz -  war eigentlich schon bei seiner Ernennung für politisch versierte Beobachter erkennbar, und sie wurde dann ja auch Realität, wobei das Wahlergebnis des 5. März 1933 für die Nationalsozialisten mit 43,9 Prozent der Stimmen trotz allen Drucks und Terrors sowie der Unterdrückung der Kommunisten nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 eher enttäuschend ausfiel. Die absolute NS-Mehrheit der Sitze im Reichstag konnte nur durch Ausschluss der Kommunisten vom Parlament erreicht werden.

Ende der Demokratie

Nimmt man dies alles zusammen, so handelte es sich tatsächlich um eine „Auslieferung des Staates“ – auf formal legalem Weg, ohne genügend innere Kraft der Demokraten, um sich gegen eine hochgefährliche Machtübernahme zu wehren. Gibt es eine Lektion daraus? Es liegt nahe, in der mangelnden Wehrhaftigkeit der Weimarer Republik die zentrale Ursache für den Zusammenbruch zu orten. Hätte es frühzeitig einen Ausschluss offen verfassungsfeindlicher Kräfte gegeben, die von rechts oder links die Demokratie zerstören wollen, wäre eine Kanzlerschaft Hitlers nicht zustande gekommen. Ein Verfassungsgericht, hätte es denn wie heute existiert, wäre nicht umhingekommen, die Nazi-Partei zu Verfassungsfeinden zu erklären und zu verbieten. So – und wohl nur so – wäre die Weimarer Republik zu retten gewesen.

Genau hierin liegt die Lehre für die heutige Bundesrepublik Deutschland. Sie muss eine wehrhafte Demokratie sein und bleiben – mit einem Verfassungsgericht, das Verfassungsfeinde von der aktiven Politik ausschließt. Und dazu braucht es natürlich eine überwältigende Mehrheit der Gesellschaft, die für diese Werte eintritt. Hoffen wir, dass es diese heute gibt. In der Weimarer Republik war sie jedenfalls nicht zu erkennen.