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Argentinien
Mercosur-Abkommen kommt für Macri zur rechten Zeit

Die EU und Mercosur haben sich am Freitag auf ein Freihandelsabkommen verständigt.
Macri

Argentiniens Präsident Mauricio Macri.

© picture alliance/Kyodo

Am vergangenen Freitag haben sich die Europäische Union und der südamerikanische Handelsblock Mercosur auf den Abschluss eines Freihandelsabkommens verständigt, nach zwei Jahrzehnten der Verhandlung. Im Falle einer punktgenauen Umsetzung würden die EU-Staaten jährlich rund vier Milliarden Euro an Zöllen einsparen. Der neue Handelsraum würde rund 770 Millionen Menschen verbinden. Damit wäre es das größte FHA der Geschichte der EU - ein Superlativ, der aufhorchen lässt.

Für die Regierung in Buenos Aires - Argentinien ist neben Brasilien, Paraguay und Uruguay einer der vier Mercosur-Mitgliedsstaaten - kommt die Nachricht zur richtigen Zeit. Das Land steckt aktuell in einer der schwersten wirtschaftlichen Krisen seiner Geschichte. Und im Oktober wird gewählt. Auch wenn die Inhalte des Abkommens nicht unumstritten sind, kann die Führung unter Präsident Mauricio Macri nach Monaten der Negativschlagzeilen endlich wieder einen konkreten Erfolg vorweisen.

Krise seit Amtsantritt verschärft

Am 27. Oktober wählen die Argentinier. Das größte Interesse dabei gilt zweifelsohne der Wahl des Präsidenten, in Argentinien Staats- und zugleich Regierungschef. Aber auch über die Hälfte der Abgeordneten und ein Drittel der Senatoren wird abgestimmt. Bis zum 22. Juni konnte sich melden, wer die Absicht hat, sich um ein Amt zu bewerben.

Macri, Präsident seit 2015, hat Anfang Juni erklärt, sich um den Verbleib in der Casa Rosada, seinem Amtssitz im Herzen der Hauptstadt Buenos Aires, zu bemühen. Völlig unerwartet kam dieser Schritt nicht, auch wenn es in den vorangegangenen Wochen Spekulationen gegeben hatte, denen zufolge Macri amtsmüde sei. Eine solche Entscheidung indes wäre als Flucht gedeutet worden. Die wirtschaftliche Krise nämlich hat sich seit Macris Amtsantritt im Dezember 2015 immer weiter verschärft. Auffälligstes Problem: die Inflation. Zwischen Mai vergangenen und Mai diesen Jahres lag sie bei knapp sechzig Prozent. Ein Drittel der rund 45 Millionen Argentinier lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze.

Eher Nationalkirche als Partei

Macri war 2015 mit Unterstützung einer Drei-Parteien-Allianz mit dem Namen Cambiemos (Lasst uns den Wandel vorantreiben) an die Macht gekommen, ein Bündnis, das aus seiner eigenen konservativen Partei PRO (Propuestra Republicana), der linksliberalen Coalición Cívica ARI (Afirmación de una República Igualitaria) und der links-sozialdemokratischen Unión Cívica Radical bestand. Die eigentliche Überraschung diesmal war der Name des Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten: Miguel Ángel Pichetto, seit 2001 Senator der in Patagonien liegenden Provinz Río Negro, davor acht Jahre Parlamentarier. Wie in den USA bestreitet in Argentinien eine Zweierformation den Wahlkampf.

Pichetto ist Mitglied der oppositionellen Partido Justicialista (PJ, Gerechtigkeitspartei). Mit seiner Einbindung ist dem Macri-Team ein Coup geglückt. Pichetto ist einer der führenden Vertreter des Peronismus, eher Nationalkirche als Partei, in jedem Falle aber eine wirkungsmächtigepolitische Bewegung, die Argentinien, seine Gesellschaft und Kultur in den zurückliegenden Jahrzehnten geprägt hat wie keine zweite. Macris ohnehin schon recht farbenfrohes Parteienbündnis ist damit um eine Facette reicher. Seit der offiziellen Vorstellung des Duos Marci-Pichetto firmiert Cambiemos unter dem Namen Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel).

Kirchner mit Rolle der Vizepräsidentin begnügt

Die Zustimmungswerte für Macri und seine Regierung befinden sich seit Monaten im freien Fall. Lange Zeit hegte man in der Casa Rosada die Hoffnung, dass die ehemalige Präsidentin Christina Fernández de Kirchner neuerlich nach der Kandidatur greifen würde. Dem Wahlkampf hätte das eine klare Polarisierung beschert. Zwar kann sich Kirchner, ungeachtet ihrer Verstrickung in zahlreiche Korruptionsaffären, auf eine zahlenmäßig stabile Anhängerschaft verlassen - die Demoskopen sprechen von rund dreißig Prozent. Eine klare Mehrheit der Argentinier indes ist ihr in tiefer Abneigung verbunden. Gegen Kirchner wäre selbst dem unpopulären Macri ein Siegso gut wie sicher gewesen. (Kirchner vertritt die Provinz Buenos Aires im Senat. Als dessen Mitglied genießt sei Immunität. Sie ist allerdings nur vor eine Inhaftierung geschützt, nicht jedoch vor strafrechtlicher Verfolgung und Verurteilung. Gegen Kirchner laufen derzeit fünf Verfahren. Ihre Immunität kann nur durch eine Zweidrittelmehrheit ihrer Senatskollegen aufgehoben werden.)

Im Mai bereitete Frente para la Victoria (Front für den Sieg), Kirchners parteipolitische Basis, den Spekulationen ein Ende. Bereits dabei gab es eine Überraschung: Präsidentschaftskandidat wird Alberto Fernández, während Kirchner sich mit der Rolle der Vizepräsidentschaftskandidatin begnügt. Der Hintergedanke dabei war klar: Der moderate Fernández soll den auch in Argentinien wahlentscheidenden, von Wirtschaftskrise und steigenden Preisen frustrierten Wechselwählern der politischen Mitte die Hemmungen gegenüber dem Kirchnerismus nehmen. Gleichzeitig soll das Kirchner ungebrochen als Halbgöttin verehrende Wählersegment bei Laune gehalten werden. Spätestens im zweiten Wahlgang am 24. November - hier treten die beiden Bestplatzierten der ersten Runde an, sofern niemand dort bereits die erforderliche Mehrheit holt - sollte so der Sieg eingefahren werden. (Gewählt ist laut Argentinischer Verfassung, wer im ersten Wahlgang entweder mindestens 45 Prozent der gültigen Stimmen auf sich vereint. Beträgt der Vorsprung dem Zweitplatzierten gegenüber mindestens zehn Prozent, reicht bereits ein Ergebnis von vierzig Prozent. Ist keine dieser Bedingungen erfüllt, kommt es zum zweiten Wahlgang.)

Linkes, national-isolationistisches Profil verpasst

Christina Kirchner kann bereits auf zwei Amtszeiten als Staats- und Regierungschefin zurückblicken. 2007 folgte sie ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Nestor – Präsident von 2003 bis 2007 - in die Casa Rosada. 2011 erfolgte die Wiederwahl. Zwar verbietet die Verfassung eine dritte Amtszeit in Folge. Nach einer Pause indes kann man seinen Hut wieder in den Ring werfen.

Die Kirchners haben in den insgesamt zwölf Jahren ihrer Regentschaft einem Teil des ideologisch stark fragmentierten Peronismus ein dezidiert linkes, national-isolationistisches Profil verpasst, angereichert mit Elementen des Personenkults. Die politische Tradition, die damit begründet wurde, bekam den simplen Namen des Kirchnerismus verpasst.

Große Koalition auf Argentinisch

Fernández war Kabinettschef unter beiden Kirchners, zunächst unter Nestor, dann unter Christina, in der Frühphase ihres ersten Mandats. Nach einem Streit über den argrarpolitischen Kurs der Regierung trat er zurück und schloss sich der oppositionellen PJ und damit dem nicht-kirchneristischen Peronismus an. Mittlerweile scheint man sich wieder versöhnt zu haben.

Für die Wahlkampfstrategen des Präsidenten dürfte die Nachricht von der Fernández-Kandidatur ein Alarmsignal gewesen sein. Die Namen aller potentiellen Cambiemos-Vertreter für den Platz an der Seite Macris im Wahlkampf waren plötzlich obsolet. Die Antwort auf einen zumindest vordergründig gezähmten Kirchnerismus ist nun die Erweiterung der Phalanx aus Konservativen, Linksliberalen und linker Sozialdemokratie um einen Vertreter des moderaten Flügel des Peronismus – eine Große Koalition auf Argentinisch. 

Machtarithmetischer Plan

Die direkte Auseinandersetzung scheinen Marci und Kirchner zu scheuen. Ihre Mitstreiter wirken wie Schutzschilde. Pichetto ist dabei genauso wenig ein Unbekannter wie Fernández. 2003 wurde er Chef der peronistischen Fraktion im Senat. Als Macri 2015 gewählt wurde, zerbrach der Peronismus im Senat in zwei Fraktionen, in die kirchneristische und die nicht kirchneristische. Pichetto wurde Chef der nicht kirchneristischen. Nun lässt er sich von Macri gegen seine ehemalige Gesinnungsgenossin einspannen.

Wahlen gewinnen ist das eine, regieren das andere. Mit Pichettos Nominierung verfolgt das Macri-Umfeld auch einen machtarithmetischen Plan. Ein Vizepräsident Pichetto nämlich könnte seinem Chef die nötigen Mehrheiten im Senat sichern. Macri hatte in seiner nun zu Ende gehenden ersten Amtszeit stets darüber geklagt, dass er zentrale Gesetzesvorhaben nicht durch den Kongress bringen könne, weil seiner Cambiemos-Allianz in beiden Kammern, dem Abgeordnetenhaus und dem Senat, die nötige Mehrheit fehlte.

Besserung nur nach Intervention der Zentralbank

Das könnte sich im Falle eines Wahlsiegs mit einem erfahrenen und gewieften Netzwerker an seiner Seite ändern. Dieses Potenzial muss Macri nutzen. Die wirtschafts-, finanz- und arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen, mit denen sich Argentinien derzeit konfrontiert sieht, sind gigantisch. Pichetto vertritt auf vielen Themenfeldern nationalkonservative Prinzipien. In Wirtschaftsfragen entscheidet er sich mal zugunsten des Staats, mal zugunsten des Marktes. Für seinen möglichen nächsten Chef findet er lobende Worte. Dieser verkörpere einen modernen, in die globale Wirtschafts-, Handels- und Finanzpolitik integrierten Kapitalismus.

Mittlerweile hat ein liberales Gespann angekündigt, sich um die Ämter des Präsidenten und seines Vizes zu bemühen: der Ökonom José Luis Espert und der Journalist Luis Rosales, beide der FNF seit Jahren verbunden. Keiner der beiden ist das Eigenwächs einer Partei. Für die Kandidatur um ein nationales Amt aber ist die Unterstützung einer landesweit verankerten Partei erforderlich. Das Duo Espert-Rosales hatte zunächst auf die Unterstützung von UNIR (Partido Nacionalista Constitucional) vertraut, einer konservativen Kleinpartei. Die hatte sich aber letztlich entschieden, Macri zu unterstützen. Mittlerweile haben beide einen Parteien-Ankerpunkt gefunden. Sie dürfen kandidieren und tun dies unter dem Namen Despertar (Aufwachen).

Börse schloss fester

Dass der 60-Jährige Präsident bleibt, ist mittlerweile wieder wahrscheinlicher geworden. Welche konkreten inhaltlichen Akzente er und Pichetto in den kommenden Jahren setzen wollen, ist derzeit noch völlig ungewiss. Dass die beiden sich dabei konsequent den Leitideen der Marktwirtschaft verschreiben, ist eher unwahrscheinlich. Immerhin: Die Aktien- und Finanzmärkte haben auf die Vorstellung des Juntos-por-el-Cambio-Tandems reagiert, und zwar positiv. Gegenüber dem Dollar gewann der Peso, die argentinische Landeswährung, an Wert– eine Schlagzeile mit Seltenheitswert. Noch nie in Macris Amtszeit hat sich die Währung ohne Interventionen der Zentralbank erholt. Die Börse honoriert die Nominierung eines Peronisten - eine Nachricht nicht ohne ironischen Beigeschmack.

 

Dr. Lars-André Richter leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF) in Buenos Aires. In seinen Zuständigkeitsbereich fallen die Länder Argentinien, Paraguay, Uruguay und Brasilien Süd.

Marcelo Duclos ist Mitarbeiter im FNF-Büro Buenos Aires und verantwortet dort unter anderem den Bereich Kommunikation.