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Weit entfernt, aber eng verwandt

Deutschland und Südkorea sind industrielle Musternationen - mit ähnlichen Stärken, aber auch ähnlichen Schwächen
Deutschland und Korea - zwei Länder, viele Gemeinsamkeiten, meint unser stellv. Vorstandvorsitzender Karl-Heinz Paqué.

Deutschland und Korea - zwei Länder, viele Gemeinsamkeiten, meint unser stellv. Vorstandvorsitzender Karl-Heinz Paqué.

© iStock/ alexis84

Seit 30 Jahren ist die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in der südkoreanischen Hauptstadt präsent - mit einem Büro auf dem Campus der Hanyang Universität. Zur Feier dieses Jubiläums fand in Seoul eine Tagung zu den Herausfoderungen der Globalisierung und Digitalisierung statt - mit Blick auf Korea und Deutschland. Unser stellv. Vorstandsvorsitzender Professor Karl-Heinz Paqué nahm daran teil. Eine besondere Freude für ihn, da er seit einigen Jahren auch aktives Mitglied im koreanisch-deutschen Konsultationsgremium der beiden Regierungen zu Fragen der Wiedervereinigung ist. Paqué sieht auffallende Parallelen zwischen den beiden Ländern.

Es ist verblüffend. Schaut man sich aktuelle Daten der OECD-Länder an, so fallen sie bei zwei Ländern sehr ähnlich aus, obwohl diese zu ganz unterschiedlichen Großräumen der Weltwirtschaft gehören: Deutschland und (Süd-)Korea. Beide haben einen soliden Überschuss im Staatshaushalt, beide einen riesigen Überschuss in der Leistungsbilanz, beide niedrige Arbeitslosenquoten und Inflationsraten. Beide sind seit Langem überaus erfolgreiche Exportnationen, und zwar aus dem gleichen Grund: Sie verfügen über eine wettbewerbsfähige und innovationskräftige Industrie, die in den letzten beiden Jahrzehnten ihre Position am Weltmarkt noch ausbauen konnte. Also: keine focierte De-Industrialisierung und keine einseitige Konzentration auf Dienstleistungen wie etwa in den USA und Großbritannien.

All dies sieht in beiden Ländern nach einer uneingeschränkten Erfolgsgeschichte der vergangenen beiden Jahrzehnten aus. Und tatsächlich: Deutschland wurde vom "kranken Mann" Europas Anfang des Jahrtausends wieder zur leistungsstarken Exportmacht, die es seit den sechziger Jahren eigentlich immer war. Und Südkorea überwand die schwere ostasiatische Finanzkrise der späten neunziger Jahre, die vorübergehend den Aufstieg des industriestärksten der vier sogenannten asiatischen Tigernationen bedrohte. Alles also bestens?

Keineswegs. Beide Länder leiden an drei fundamentalen Schwächen, die ihre wirtschaftliche Dynamik langfristig bedrohen. Ihre Bevölkerung altert und schrumpft, was nicht nur die Sozialsysteme, sondern auch die Innovationskraft gefährdet. Beiden Ländern fehlt es an einer dynamischen Start-up-Kultur, die sich auch nur annähernd mit amerikanischen Maßstäben messen könnte. Und in beiden Ländern wird zu wenig investiert, denn der Leistungsbilanzüberschuss ist ja nicht nur das Ergebnis der Sparsamkeit der Bevölkerung, sondern auch die Folge mangelnder Rentabilität von Investitionen im Land selbst. Ergebnis: Privates Kapital fließt ins Ausland und hilft eben nicht, die Produktionskapazität im Inland zu erweitern.

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Es ist paradox: Beide Länder leben von der Substanz und auf Kosten der Zukunft, auch wenn ihre ökonomischen Eckdaten auf den ersten Blick größtmögliche Seriosität und Solidität suggerieren. Es gibt also in beiden Ländern Bedarf an Reformen. Die Grundrichtung ist identisch: die Förderung der Zuwanderung von jungen Fachkräften und eine Bildungsoffensive; Deregulierung und Entbürokratisierung als Starthilfe für eine starke Gründerkultur rund um leistungsfähige Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen, die reichlich vorhanden sind; und Ausbau modernster Kommunikationsnetze bis in die ländlichen Regionen hinein. Dabei sind die Engpässe im Detail jeweils unterschiedlich, weshalb auch die politischen Schwerpunkte differenziert gesetzt werden müssen: in Deutschland mehr auf Zuwanderung und den Ausbau der Kommunikationsnetze, in Korea mehr auf eine Bildungsreform, die junge Menschen zum kreativen, unternehmerischen Denken jenseits des reinen Erwerbs von Wissen motiviert.

Aber die Grundrichtung ist die Gleiche. Und das ist kein Zufall: In vielerlei Hinsicht hat sich Südkorea als industrieller Nachzügler seit den siebziger Jahren an Deutschlands Vorbild orientiert - mit einer asiatischen Variante der Sozialen Marktwirtschaft, die dem deutschen Modell des industriell fundierten "Rheinischen Kapitalismus" durchaus ähnelt. Dies allerdings auch mit einer problematischen Seite, nämlich der Dominanz weniger Unternehmen und Gewerkschaften, die den Arbeits- und Produktmärkten die nötige Flexibilität nehmen und den wirklich intensiven Wettbewerb nur über die Weltmärkte zulassen. Dabei gelang es dem Land auch noch nicht, jenen breiten gewerblichen Mittelstand entstehen zu lassen, der vor allem außerhalb der hochurbanisierten Zentren in Deutschland die Wirtschaftskraft garantiert. So ist im Zuge einer hastigen Industrialisierung das moderne Südkorea ein stark zentralisiertes Land geworden, in dem allein die Hauptstadt Seoul 10 Millionen Einwohner zählt und deren Metropolregion Sudogwon 25 Millionen, die Hälfte Südkoreas!

Dies mag auch erklären, dass das Land trotz seiner Erfolgsbilanz noch immer nicht ganz  das Niveau jenes Pro-Kopf-Einkommens erreicht hat, das für uns in Deutschland zum Standard geworden ist. Es fehlen noch immer - je nach Messung - die letzten 20 bis 30 Prozentpunkte zur Spitze, und diese verbleibende Lücke ist nicht allein durch wenige Weltkonzerne wie Hyundai, LG und Samsung zu schließen. Dafür braucht es in der Breite jene Innovationskraft, die in der deutschen Provinz seit dem 19. Jahrhundert über einen langen Zeitraum gewachsen ist und zum Teil auf technische Fähigkeiten und gewerbliche Praktiken zurückgeht, die noch viel älter sind. Die Bäume wachsen also auch im Süden der koreanischen Halbinsel nicht in den Himmel.

Dies gilt umso mehr, als Deutschland bereits jene Aufgabe bewältigt hat, die dem geteilten Korea möglicherweise noch bevorsteht: die Wiedervereinigung. Zugegeben, der Gedanke mag absurd erscheinen im Angesicht des aktuellen Geschehens, bei dem Nordkoreas junger Dikator Kim die Nachbarn immer stärker in die Perspektive atomarer Bedrohungsszenarien treibt - und sein eigenes Land immer mehr in ein wirtschaftliches Elend, das an Grausamkeit kaum zu überbieten ist. Aber die Geschichte hat schon des Öfteren eine völlig überraschende und dramatische Wende genommen.

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Klar ist allerdings: Im Falle einer solchen Wende wäre eine Wiederveinigung Koreas wohl noch schwieriger und teurer als die Deutsche Einheit nach 1990. Dafür gibt es objektive Gründe. Zunächst ganz einfach die Größe: Von den ca. 75 Millionen Koreanern leben rund ein Drittel im kommunistischen Norden, von den 80 Millionen Deutschen waren 1990 dagegen nur ein Fünftel Bürger der DDR. Noch wichtiger: Das wirtschaftliche Gefälle ist im Fall Koreas noch viel gewaltiger, die Zeit der Teilung noch viel länger, die psychologische Distanz noch viel größer als seinerzeit in Deutschland - immerhin führten Nord-und Südkorea einen Krieg gegeneinander, der eine Million Menschenleben kostete. Die Aufgabe könnte also für geraume Zeit zu einer besonders schweren fiskalischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Last werden.

Aber auch da gibt es positive Parallelen. Wie seinerzeit Westdeutschland hat heute Südkorea genug Reserven, um Kapital für den Neuaufbau zu mobilisieren: bei geringer Verschuldung, hoher Bonität sowie Überschüssen im Staatshaushalt und vor allem in der Leistungsbilanz. Und Südkorea hat starke, weltweit wettbewerbsfähige Industriekonzerne, die im neuen Landesteil investieren könnten. Auch in dieser Hinsicht besteht also eine merkwürdige koreanisch-deutsche Gemeinsamkeit oder gar Seelenverwandtschaft. Vielleicht hat diese auch damit zu tun, dass Völker von Nationen, denen noch eine unerledigte große Aufgabe bevorsteht, doch klug genug sind, einen Vorrat an Werten anzulegen, auf den sie im Fall des Falles zurückgreifen können.

Ist das abwegig, naiv und unverbesserlich optimistisch? Viele Südkoreaner stellen heute skeptisch fest, dass die jungen Menschen in ihrem Land an einer Wiedervereinigung gar nicht mehr interessiert sind. Ich antworte dann immer: Liebe koreanischen Freunde, das war in den achtziger Jahren in Deutschland nicht anders!

Warten wir also ab, was passiert: Wenn sich die Freiheit bahnbricht, dann macht auch die skeptische Generation mit. So war es nach dem Mauerfall 1989 auch in Deutschland. Herausgekommen ist dabei - auf lange Sicht - ein anderes Land: größer, bunter, spannungsreicher, aber auch faszinierender als das alte Westdeutschland. Vielleicht könnte es in Korea genauso kommen.