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Soziale Medien
Das neue Gesetz über die Sozialen Medien – Die letzte Bastion freier Meinungsäußerung im Visier der Regierung

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© picture alliance / AA | Muhammed Selim Korkutata

Die Regierung hat Anfang November die ersten Geldstrafen verhängt, nachdem die Social-Media-Anbieter bisher keine Anstalten machten, die Auflagen des Anfang Oktober in Kraft getretenen „Gesetzes über die Sozialen Medien“ zu erfüllen. Facebook, Instagram, Twitter, YouTube und TikTok wurden jeweils zu einer Geldstrafe von umgerechnet etwa einer Million Euro verurteilt. Der Strafanlass: Keiner der Internet-Riesen hatte, wie es das Gesetz vorschreibt, eine örtliche Niederlassung mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter eröffnet.

Ömer Fatih Sayan, Minister für Transport und Infrastruktur und für die Umsetzung des Gesetzes zuständig, zeigt sich zuversichtlich, dass eine einvernehmliche Lösung gefunden wird: „Unser Ziel ist es nicht, mit diesen Anbietern in Konflikt zu geraten, die Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt benutzen“, schrieb Sayan auf Twitter.

Sollten sich die Social-Media-Konzerne weiterhin weigern, die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen, drohen harte Konsequenzen: Die Regierung hat einen fünfstufigen Sanktionsplan in der Schublade. Dieser sieht neben Geldstrafen ein Werbeverbot und die Drosselung der Breitbandgeschwindigkeit um bis zu 90 Prozent vor. Dies würde die Nutzung der Internetseiten praktisch unmöglich machen. Wenn die Anbieter ihre Repräsentanten zeitnah ernennen, müssten sie nur ein Viertel der Geldstrafe bezahlen, erklärt Minister Sayan großmütig.

Facebook ließ bereits im Oktober verkünden, dass es weder für sich noch für Instagram eine lokale Niederlassung in der Türkei eröffnen werde. Andere Social Media-Unternehmen haben sich noch nicht offiziell geäußert. Lediglich die russische Plattform VKontakte hat fristgerecht einen lokalen Repräsentanten ernannt. Nachgezogen sind nun Netflix und Amazon Prime, wie der Vorsitzende von RTÜK, dem obersten Rundfunk- und Fernsehrat, Ebubekir Şahin verlauten ließ.

 „Ich denke nicht, dass es eine einfache Entscheidung für sie ist, weil [das Gesetz] ein zweischneidiges Schwert ist“, analysiert Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität in Istanbul und Gründer der Freedom of Expression Association. Gegenüber Al-Monitor sagte er: „In der Türkei ist ein rechtsstaatliches Verfahren nicht gewährleistet, und der Justiz fehlt die Unabhängigkeit. Es wird für [Social-Media-Unternehmen] äußerst schwierig werden, in der Türkei zu sein, weil sie Teil des Strafverfolgungs- und Justizsystems werden“, indem sie sich z.B. zur Speicherung und auf Anfrage zur Weitergabe der Benutzerdaten verpflichten würden. Akdeniz vertritt die Meinung, die Social Media-Anbieter werden die Geldstrafen vorerst nicht bezahlen und abwarten.

Das neue Gesetz sieht neben der Ernennung einer örtlichen Repräsentanz außerdem vor, dass sich Social-Media-Anbieter mit täglich über einer Million türkischen Nutzern dazu verpflichten, binnen 48 Stunden auf Anfragen zur Löschung oder Sperrung bestimmter Inhalte zu reagieren. Als Verstoß gegen das Gesetz zählen z.B. die Verletzung von Persönlichkeitsrechten, die Förderung des Terrorismus sowie Gewalt, die Störung der öffentlichen Ordnung, Fluchen sowie der Missbrauch von Frauen und Kindern. Zunächst haben nur Institutionen das Recht, die Sperrung oder Löschung von Inhalten zu verlangen. Den Bürgerinnen und Bürgern soll diese Möglichkeit ab Mitte 2021 zustehen.

Oppositionsparteien und Menschenrechtsaktivisten haben seit Bekanntgabe des Gesetzes im Juli starke Bedenken und Kritik geäußert: Das Gesetz werde die Meinungsfreiheit auf Social-Media-Webseiten einschränken. Diese seien nach wie vor eine der wenigen Bereiche, in denen andere Ansichten und Kritik an der Politik der Regierung möglich seien.

„Es geht nicht darum, Beleidigungen und Angriffe auf Persönlichkeitsrechte zu verhindern. Das Gesetz soll es erleichtern, die Bürger in den sozialen Medien zu überwachen“, sagt der Vorsitzende der NGO Initiative für alternatives Wissen Faruk Çayır. Die Regierung wolle ein Klima erzeugen, das Selbstzensur befördert, kritisiert der Experte.

Dieser Kritik begegnen Vertreter der Regierung mit dem Hinweis, dass es ähnliche Gesetzgebungen auch in anderen demokratischen Ländern wie zum Beispiel in Deutschland gebe. Präsident Erdogan machte den Gesetzesentwurf unter dem Beinamen „deutsches Modell“ bekannt und bezog sich dabei auf das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zur „Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in den sozialen Medien“ von 2017.

Yaman Akdeniz von der Freedom Bilgi Universität hält nichts von diesem Vergleich. Er sieht das türkische Gesetz eher auf einer Linie mit dem „chinesischen Modell“. „In der Türkei wird jetzt schon der Zugang zu mehr als 400.000 Webseiten blockiert. Auch Twitter, YouTube und Wikipedia waren zeitweise von Zensur betroffen. Solche Bedingungen hat es in Deutschland nie gegeben.“