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Westbalkan
Serbien und Kosovo – eine unendliche Konflikt-Geschichte?

Aleksandar Vučić

Aleksandar Vučić

© picture alliance / EPA | ANDREJ CUKIC

Glaubt man serbischen Medien, steht ein Krieg zwischen Serbien und Kosovo unmittelbar bevor – und das seit Jahren. In der von der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) dominierten Medienlandschaft sind die Rollen klar verteilt: auf der einen Seite Serbien, das für Frieden und Kompromissbereitschaft steht, auf der anderen Seite der „so genannte Staat Kosovo“, der jedem Serben nach dem Leben trachtet und stets das nächste Blutvergießen sucht. Eine Untersuchung der beiden auflagenstärksten Boulevard-Zeitungen Serbiens ergab, dass der Srpski Telegraf und der Informer ganze 265-mal den Ausbruch eines Krieges ankündigten – in einem Jahr wohlgemerkt!

Konflikt als Machterhalt

Die Hysterie hat natürlich System: nur nach der Abwendung von allergrößten Bedrohungen kann der allgegenwärtige Präsident Aleksandar Vučić als der Friedensengel und Retter Serbiens überhöht werden, als der er sich gerne selbst sieht. So tritt er fast allabendlich im Fernsehen auf und verkündet, das Beste für Serbien erkämpft zu haben; und das in einem Umfeld, in dem sich sein Land einer Vielzahl ausländischer, gegen Serbien verschworener Akteure gegenübersieht. Erst am Montag behauptete Vučić, Serbien sei Schauplatz eines „Stellvertreterkrieges zwischen Ost und West“.

Die „Boulevardisierung“ der Politik, die zur Selbsterhaltung von einer Krise zur nächsten hetzt, zeigte sich jüngst in einer weiteren Episode des serbisch-kosovarischen Konflikts: ein Streit um die Anerkennung von Personaldokumenten beim Übertritt über die serbisch-kosovarische Grenze wurde Ende Juli zum Kriegsgrund hochgekocht. Auch die gegenseitige Anerkennung von Kfz-Kennzeichen wurde so hoch gehängt, dass sich die Europäische Union und die Vereinigten Staaten als Mittler einschalteten. „Vučić will Frieden um jeden Preis, Kurti will Blut: Beginnt der Krieg im Kosovo?“, titelte prompt der Srpski Telegraf.

Letztlich steht hinter den tagespolitischen Konflikten und Krisen eine grundsätzliche Frage: der Standpunkt von Kosovo und seines Premierministers Albin Kurti ist es, erst eine Anerkennung der Souveränität zu erreichen, um dann alle Streitfragen zwischen zwei gleichberechtigten Staaten zu verhandeln. Für die serbische Seite steht die Anerkennung der Souveränität von Kosovo – wenn überhaupt – an allerletzter Stelle, nachdem alle strittigen Fragen geklärt sind. Es ist schwierig, signifikante Fortschritte zu erzielen, wenn beide Verhandlungspartner den Prozess diametral anders verstehen. In dieser Lage sind kurzfristige Konflikte und deren Lösungen alles, was beide Staatschefs ihren Wählerinnen und Wählern anbieten können.

 

Liberale Lösungsvorschläge

„Symbolische Fragen wie Hoheitszeichen auf Nummernschildern dürfen nicht außer Kontrolle geraten und zu einem Konflikt führen, und sie dürfen auch nicht als Vorwand dienen, um das Leben der Menschen, die in Kosovo leben, noch schwieriger zu machen“, sagt Natan Albahari von der serbischen liberalen Partei „Bewegung Freier Bürger“. Für Serbien – und auch für die serbischen Liberalen – sei es wichtig, den Status der serbischen Bevölkerung in Kosovo vertraglich festzuschreiben, damit sich diese sicherer fühle und weiterhin an den Institutionen des Kosovo teilnähme.

Um die seit Jahren festgefahrene Situation zu überwinden, schlagen die serbischen Liberalen ein Modell vor ähnlich demjenigen, das seinerzeit die beiden deutschen Staaten als Modus Vivendi praktizierten: möglichst weitreichende Verträge und Abkommen über friedliche Koexistenz anzustreben, ohne sich dabei als selbständige Staaten im völkerrechtlichen Sinne anzuerkennen. „Letztendlich müssen alle Schritte zu einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Belgrad und Pristina führen“, so Albahari, der einer von drei liberalen Abgeordneten in der serbischen Nationalversammlung ist. „Unser Vorschlag ist daher, dass Serbien den Kosovo wie einen unabhängigen Staat behandelt, mit allen Rechten und Pflichten, die souveräne Staaten haben, einschließlich der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, aber ohne die offizielle und symbolische Anerkennung durch Serbien.“

In Kosovo sieht man dies anders: im Anschluss an die Vereinbarung wurde Kurti unisono von allen Oppositionsparteien kritisiert, da er sich im technischen Klein-Klein verliere, anstatt ein umfassendes Abkommen zur Anerkennung der Eigenstaatlichkeit anzustreben. Doch auch Serbien hat Grund, unzufrieden mit der Regierung von Premierminister Kurti zu sein: im so genannten „Brüsseler Abkommen“ von 2013 wurde u.a. die Einrichtung einer „Gemeinschaft der serbischen Kommunen“ vereinbart. Mit Verweis auf die „Republika Srpska“, die als Teilstaat von Bosnien & Herzegowina seit Jahren die Funktionalität des Gesamtstaates blockiert, lehnt die gegenwärtige Regierung in Pristina entgegen dem Brüsseler Abkommen eine Autonomie von zehn mehrheitlich serbisch bewohnter Gemeinden innerhalb von Kosovo ab.

 

Kleine Schritte oder große Gesten?

Nach wochenlangen Schuldzuweisungen im Streit um einheitliche Einreiseregeln verständigten sich Serbien und Kosovo Ende August unter Vermittlung der EU darauf, ihren Bürgerinnen und Bürgern den Grenzübertritt ohne zusätzliche Ein- und Ausreisedokumente zu ermöglichen und damit faktisch die Personalausweise gegenseitig anzuerkennen. Nach teils heftigen Protesten in Serbien stellte die Regierung umgehend Hinweistafeln an sämtlichen Grenzübergängen auf, dass die Anerkennung der Ausweisdokumente „in keiner Weise die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo impliziert“.

Kritisch bleibt überdies, dass Serbien weiterhin serbische Passdokumente für die in Kosovo lebenden Serben ausstellt, da es sich nach seiner Lesart weiterhin um serbisches Territorium handelt. Auch wird nach wie vor die Wiederansiedlung von im Zuge des Kosovokriegs vertriebenen Serben forciert, was nicht zu einer Beruhigung der Lage im Norden des Kosovo beiträgt.

Wie von den serbischen Liberalen vorgeschlagen wird eine Politik der kleinen Schritte realpolitisch der einzige Weg sein, eine friedvolle Koexistenz zu erreichen. Anders als es gegenwärtig zwischen dem serbischen Präsidenten Vučić und dem kosovarischen Premierminister Kurti der Fall ist, waren die deutsch-deutschen Verhandlungen von Vertrauen und der Überzeugung geprägt, dass die Bevölkerungen in beiden deutschen Staaten gütlichen Einigungen positiv gegenüberstehen. Aufgrund des selbstverantworteten medialen Klimas darf dies auf dem Balkan gegenwärtig bezweifelt werden.

 

Markus Kaiser ist Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit für den Westbalkan mit Sitz in Belgrad.