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Gewaltsame Proteste
Was in Kasachstan passiert

Kasachstan
© picture alliance/dpa/TASS | Valery Sharifulin  

Kasachstan erlebt seit Tagen gewaltsame Proteste. Präsident Tokajew hat nun in einer Fernsehansprache einen Schießbefehl gegen die Demonstranten erteilt. Der Schießbefehl  gegen jegliche Demonstranten ist durch nichts zu rechtfertigen. Unser Kasachstan-Experte Martin Kothé,  befürchtet, dass jegliche legitimen Proteste künftig im Keim erstickt werden.

 

freiheit.org: Was passiert gerade in Kasachstan?

Martin Kothé: Wir wissen nach einigen Tagen der Unklarheiten mittlerweile gesichert: In Kasachstan werden teils gewaltsame Proteste gegen die autokratische Regierung mit ebenso großer Gewalt niedergeschlagen, und die Gewalt dauert an. Aus einer diffusen Wut über eine Verdopplung der Treibstoffpreise, über staatliche Misswirtschaft und Armut entwickelten sich schnell landesweite Massenproteste. Das Land wird zwar offiziell von Präsident Kassym-Schomart Tokajew regiert, im Hintergrund zieht aber Nursultan Nasarbajew, der allgegenwärtige „Führer der Nation“, die Strippen, der schon die Kasachische Sowjetrepublik geführt hatte und von 1991 an Präsident Kasachstans war. Kasachstan fühlt sich außerhalb der Großstädte wie aus der Zeit gefallen an. Dabei hat das Land durchaus etwas aus seinem Rohstoffreichtum machen können, bei der Bevölkerungsmehrheit ist davon aber zu wenig angekommen.

Warum hat Russland umgehend auf diese innerkasachische Angelegenheit reagiert? Sieht sich Russland nach wie vor als Schutzmacht der ehemaligen Sowjetrepublik?

Die allermeisten Menschen in Kasachstan sind bitterarm. Der Staat wird autokratisch regiert und einige Oligarchen beuten die Rohstoffe des Landes aus. Die Ähnlichkeiten zu Russland sind also frappierend. Durch den Euromaidan 2014 hat die Ukraine bereits gezeigt, dass sie einen anderen Weg gehen möchte als Russland. Nach der Samtenen Revolution im Jahr 2018 in Armenien drohte dort dasselbe. Deshalb war ein „Flächenbrand“ unzufriedener Bürgerinnen und Bürger in der kasachischen Steppe nicht nur für die kasachischen, sondern auch für die russischen Machthaber gefährlich.

Auch wenn sich beide Staaten aufgrund russischer Expansionsgelüste zuletzt eher misstrauisch beäugten, scheint die Situation für die kasachischen Machthaber so gefährlich geworden zu sein, dass sie Russland bzw. die russisch dominierte Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit (ODKB) um Hilfe baten. Eine Randnotiz hierbei ist, dass ausgerechnet der armenische Präsident Nikol Paschinjan, der durch die Samtene Revolution gegen eine korrupte armenische Elite an die Macht gekommen war und im armenisch-aserbaidschanischen Krieg vergeblich auf eine Unterstützung durch die ODKB gehofft hatte, nun das Eingreifen ebendieser Organisation gegen die kasachischen Protestanten verkünden musste. Dies kann man durchaus als nachträgliche Demütigung Paschijans durch Präsident Putin lesen.

Besteht die Hoffnung, dass sich in Kasachstan durch die Proteste etwas zum Guten wendet?

Die Menschen in Kasachstan haben auch nach dem Zerfall der Sowjetunion nie Demokratie erlebt. Andersherum haben sich die kasachischen Machthaber nie als Vertreter der Anliegen des kasachischen Volkes gesehen. Dies zeigt sich im Umgang mit den Protesten nun allzu deutlich. Während der Staat das Recht hat, auf gewaltsame Proteste entsprechend zu reagieren, ist der Schießbefehl von Staatschef Tokajew gegen jegliche Demonstranten durch nichts zu rechtfertigen. Das Regime zeigt nun sein wahres Gesicht. Und mit russischen „Friedenstruppen“, die nun auch auf unbestimmte Zeit in Kasachstan stationiert sein werden, steht zu befürchten, dass jegliche legitimen Proteste künftig im Keim erstickt werden.

 

Martin Kothé ist Regionalbüroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für Südost- und Osteuropa.