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Analyse
Wahlen in Jordanien: Zeit für Veränderung oder reine Symbolpolitik?

Jordanien wählt, doch es ist unklar, wie viel die Wahlen im Königreich überhaupt bewirken können
Parlament Jordanien
© picture alliance / AP Photo | Mohammad Hannon

Der Wahlkampf in den USA ist gerade vorüber. In Jordanien ist er noch in vollem Gange und offenbart gleichzeitig die Unterschiede der beiden politischen und vor allem gesellschaftlichen Systeme. Zwar kann man sein Staatsoberhaupt in Jordanien nicht wählen, dennoch haben die Jordanier unterschiedliche Möglichkeiten, sowohl auf lokaler/regionaler Ebene, als auch auf nationaler Ebene ihre Stimme abzugeben. Am morgigen Dienstag, den 10.11.2020, sind sie nun dazu aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Von den 130 zur Verfügung stehenden Abgeordnetenmandaten sind 15 reserviert für Frauen, neun für Christen und drei für Tschetschenen und Tscherkessen.

Plakative Demokratie?

Um diese Plätze bewerben sich derzeit 1329 männliche und 364 weibliche Kandidaten und diese Kandidaturen bleiben keinem Bürger in Jordanien verborgen. Wenn es eine Korrelation zwischen der Anzahl an Wahlplakaten im öffentlichen Raum und der demokratischen Verfasstheit eines Landes gäbe, würde Jordanien in der oberen Demokratieliga spielen. Analysen der politischen Symbolik zeigen, dass sich die Vorbereitung einer Parlamentswahl entweder als zivilreligiöse Liturgie, Folklore oder geschäftsmäßiger Pflichtvollzug gestalten lässt. In Jordanien wird der Komplexität politischer Debatten jedoch durch Massen an Plakaten und Profilfotos der Kandidaten im öffentlichen Raum mit wenig inhaltsreichen Slogans - wie "Bildung: Wiederbelebung des Landes" oder "Die Würde des Bürgers ist der Schutz der Nation" - begegnet. Die Wahlen zum jordanischen Parlament sind somit weitaus weniger politisch als sie vordergründig erscheinen. Dabei ist, wie in Deutschland, das jordanische Parlament das einzig direkt gewählte Verfassungsorgan des Landes und damit normativ die demokratische Zentralinstanz mit unmittelbarer Legitimation durch die Bevölkerung.

Die Stellung und Akzeptanz des jordanischen Parlaments

Im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung hat die Abgeordnetenkammer kontinuierlich an Bedeutung verloren. Lag die Wahlbeteiligung seit 1990 beständig bei ca. 50%, sank sie in der letzten Wahl 2016 rapide auf nur 36% ab. Die Gründe dafür sind vielfältig: Nahezu keine der letzten Regierungen war mit Ministern besetzt, die parlamentarische Erfahrung hatten. Mit ca. 80% parteilosen Mandatsträgern ist das derzeitige Parlament eine legislative Versammlung von Einzelkämpfern und zur Bildung von legislativen Koalitionen kaum in der Lage. Dies wurde gerade in den letzten Monaten deutlich sichtbar. Im Rahmen des Verteidigungsgesetzes, das zur Bekämpfung der Coronakrise seit März 2020 gilt, benötigte die Regierung das jordanische Parlament für weitreichende Entscheidungen nicht. Dennoch sah man nur selten Abgeordnete über die Aufsicht von Regierungstätigkeiten diskutieren oder sich zu den Folgen der aktuellen Situation äußern. Ebenso wenig waren politische Parteien in diesen Gesprächen präsent. Vor dem Hintergrund dramatisch ansteigender COVID-19 Infektionen, verhängte die jordanische Regierung darüber hinaus strenge Maßnahmen, welche Auswirkungen auf den Wahlkampf hatten: Versammlungen von mehr als 20 Personen wurden untersagt, nächtliche Ausgangssperren und wöchentliche Lockdowns machten es den Kandidaten unmöglich, in den sonst üblichen Wahlkampfzelten überzeugte oder unentschlossene Wähler durch Volksfeststimmung, große Massen-Dinner-Parties und die Aussicht auf eine mögliche Anstellung im öffentlichen Dienst zu überzeugen.

Corona als Chance?

Aber nicht nur die Regierung, auch das Virus selbst hat die Fragilität des jordanischen Parlamentswahlkampfes offenbart. Die Fokussierung auf (traditionell durch von speziellen Stämmen gestützten) parlamentarische Einzelkämpfer ist weitaus fragiler, als es eine von politischen Inhalten getragene Plattform wäre. Infiziert sich ein Kandidat mit Corona sind er und seine Anhänger weitestgehend neutralisiert. Jedenfalls weitaus mehr als es Bewegungen wären, die sich auf Themen und nicht auf Namen oder Persönlichkeiten konzentrieren würden. Diese könnten jederzeit Mittel und Wege finden, ohne persönliche Kontakte erfolgreich zu sein: Ein Kandidat kann krank werden, aber die Idee einer Plattform findet weiterhin Resonanz. Davon ist im Jordanien des Jahres 2020 leider nichts zu sehen.

Wie überall auf der Welt ist auch in Jordanien die Ausbreitung und Bekämpfung von COVID-19 eine große Aufgabe und schwere Last für die Regierung. Und auch hier verbirgt sich in jeder Krise immer auch eine Chance. Das haschemitische Königreich hat eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt: Über 60% der Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt und 2016 wurde das Wahlalter auf 17 Jahre (und 3 Monate) gesenkt, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen. Dieser große Bevölkerungsanteil ist eine einzigartige Chance, sich selbst zu reformieren und von traditionellen Mustern zu lösen.

Worauf ist bei dieser Wahl zu achten?

Auch wenn dem Parlament im politischen Alltag mit Königshaus und jordanischer Regierung bisher eine untergeordnete Rolle zukam, besteht die Möglichkeit, dass dies nun von der Bevölkerung hinterfragt wird. Wie erwähnt greifen im Jahre 2020 altbewährte Muster des jordanischen Wahlkampfes nicht mehr. Eine große Anzahl an Neuwählern ist sich dieser historischen Abläufe auch gar nicht bewusst. In Ermangelung persönlicher Wahlkampfauftritte bleibt jungen Wählern fast gar nichts anderes übrig, als sich beispielsweise im Internet über Kandidaten zu informieren und andere Maßstäbe an ihre Stimmabgabe anzulegen. Die daraus resultierende Wahlbeteiligung könnte ein Indikator sein, an welchem sich messen lässt, welches Reformpotential in der jordanischen Gesellschaft vorhanden ist. Aber nicht nur die Wahlbeteiligung, auch die gezielte Stimmabgabe für weibliche Kandidaten wäre ein solcher Indikator. Im Jahr 2013 wurden nur drei Frauen außerhalb des Quotensystems gewählt. Im Jahr 2016 waren es bereits fünf. 2020 ist die Anzahl weiblicher Kandidaten wesentlich höher als in der Vergangenheit. Das Wahlergebnis wird letztendlich zeigen, ob die jordanische Gesellschaft am konservativen Wertemodell festhält oder über den gesetzten Quotenrahmen hinaus progressive Impulse zu setzen in der Lage ist. Dies im Blick zu behalten, ist wichtig für die westliche Wertegemeinschaft, die sich – wie Deutschland – in großem Umfang an der Stabilisierung Jordaniens beteiligt. Fast 10% des gesamten jordanischen Staatshaushaltes stammen aus ausländischen Hilfszahlungen, und noch weit mehr Kapital fließt für humanitäre Hilfe, Bildung, Wasser und Infrastrukturprojekte in das Land. Nicht nur der Königshof ist an der Aufrechterhaltung dieses Arrangements interessiert. Es ist auch zum Nutzen der internationalen Gemeinschaft, und dabei insbesondere Deutschlands, welche strategische Interessen Jordanien in der Region verfolgt. Als ein Land, dem es an natürlichen Ressourcen mangelt, verspricht das strategisch gelegene Jordanien Stabilität in einer extrem instabilen Region, in der die Wirtschaft kollabiert und langwierige Kriege geführt werden. In dieser krisengeschüttelten Region ist Jordanien ein sicherer Hafen für wirtschaftliche Investitionen und ein stets willkommener Partner für Politiker aus der ganzen Welt. Gerade für Deutschland – das sich Anfang November 2020 zu knapp 400 Millionen Euro Entwicklungshilfe für Jordanien verpflichtet hat – ist es wichtig, diese filigranen Entwicklungen zu beobachten. Aber auch Europa sollte ein Interesse daran haben, auf mehr als nur Stabilität in Jordanien zu achten. „Nachhaltige Stabilität“ ist hierbei das Stichwort. Nachhaltigkeit erschöpft sich nicht in der symbolischen Umsetzung von politischen Ritualen, sondern im täglichen politischen Alltag, in welchem Argumente ausgetauscht werden und um Kompromisse gerungen wird. Auch wenn das kommende Parlament dazu nicht in der Lage sein wird – möglicherweise ist die jordanische Bevölkerung bereits einen Schritt weiter.