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Eine Kolumne von Karl-Heinz Paqué

Vor 175 Jahren
Gescheiterte Revolution?

Die Frankfurter Paulskirche legte den Grundstein für die deutsche Demokratie. Kurzfristig verfehlte sie ihre Ziele. Langfristig hatte sie mehr Erfolg als viele denken.
Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main

Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main

© picture alliance / Bianchetti/Leemage | ©Bianchetti/Leemage

Am 18. Mai 1848 zogen die Abgeordneten feierlich in die Frankfurter Paulskirche ein. Das erste frei gewählte deutsche Parlament nahm seine Arbeit auf. Den konkreten Anstoß dazu hatte die Märzrevolution in Paris gegeben, die wie ein Lauffeuer ganz Europa ergriff, eben auch Deutschland.

Das war kein Zufall. Im Vormärz - der zwei Jahrzehnte von Zensur und Unterdrückung bürgerlicher Bewegungen, die der Achtundvierziger Revolution vorausgingen - hatte sich der liberale Widerstand gegen Privilegien und Standesherrschaft des Adels im Deutschen Bund spürbar zu Wort gemeldet, und zwar in allen möglichen Formen: Massenkundgebung des Hambacher Fests 1832, Protest der “Göttinger Sieben” in den späten dreißiger Jahren und die regelmäßigen Treffen des liberalen Hallgarten-Kreises waren nur unterschiedliche Ausprägungen des gleichen Phänomens: der Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen, des Rufs nach Freiheit. Und die wirtschaftlich schwierigen vierziger Jahre mit Missernten in der Landwirtschaft und dem einsetzenden Elend der Arbeiter in der beginnenden Industrialisierung taten ihr Übriges, die Stimmung zu radikalisieren.

Die Debatten im Parlament der Paulskirche und deren Ausschüssen hatten hohes intellektuelles Niveau. Viele Parlamentarier entstammten dem Bildungsbürgertum, wie ein 140 Jahre später herausgegebenes Handlexikon - initiiert vom damaligen hessischen Minister für Wissenschaft und Kunst, Dr. Wolfgang Gerhardt, dem heutigen Ehrenvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit - eindrucksvoll zeigt. Die Kehrseite dessen war, dass die Debatten sich lange hinzogen und wohl gelegentlich die zielgerichtete Entscheidungsfindung darunter litt. Auch politisch zeigten sich früh Risse und Spaltungen, vor allem zwischen gemäßigten Liberalen, die für eine konstitutionelle Monarchie eintraten und sich schließlich auch durchsetzten, und radikaleren Demokraten, die für eine Republik plädierten. Es kam zur Spaltung des Liberalismus. Es sollte nicht die letzte bleiben, weitere folgten.

Die Paulskirche tagte fast ein ganzes Jahr – bis in den März 1849. Dies gab den konterrevolutionären Kräften hinreichend Zeit, sich militärisch zu wappnen und zwischen großen Königs- und Fürstenhäusern zu koordinieren. Der König von Preußen, der noch im März 1848 nach den revolutionären Unruhen und Opfern verschreckt zu Konzessionen bereit war, lehnte ein Jahr später die Krone einer neu zu schaffenden parlamentarischen Monarchie, die ihm die Paulskirche anbot, in arroganter Form ab. Damit war im Grunde die Revolution gescheitert, der Rest war militärische und polizeiliche Abwicklung. Die mühsam erarbeitete Verfassung mit ihrem grandiosen Grundrechtskatalog blieb ein Stück Papier – wenn auch eines, das künftigen Generationen von Verfassungsgebern noch als inspirierende Blaupause diesen sollte.

Die Niederlage war komplett. Es kam zu einer Auflösung auf breiter Front: Verfolgte Parlamentarier flohen in die Schweiz, nach Frankreich und England sowie in die Vereinigten Staaten, wo einige von ihnen als “Fourty-Eighters” noch in den folgenden Jahrzehnten eine beachtliche politische und gesellschaftliche Rolle spielten. Aber für die deutsche Politik war eine ganze Generation von begabten Parlamentariern entmachtet. Viele von denen, die im Land blieben, zogen sich auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Laufbahnen zurück. Sie waren dabei oftmals durchaus erfolgreich, zumal in den fünfziger und sechziger Jahren ein wirtschaftlicher Boom einsetzte, der die berufliche Neuorientierung erleichterte. Gleichwohl: Es blieb eine schwere politische Niederlage.

Manche Historiker ziehen daraus den Schluss, dass Deutschland bis heute an der fehlenden erfolgreichen Revolution leidet – im Vergleich zu England, Frankreich und den Vereinigten Staaten. Entsprechend schwach ist die Erinnerung an jene großartigen Persönlichkeiten, die damals in der Paulskirche agierten. Wer kennt heute noch – in alphabetischer Reihenfolge – Friedrich Daniel Bassermann, Robert Blum, Friedrich Christoph Dahlmann, Johann Adam von Itzstein, Johann Jacoby, Sylvester Jordan, Karl Mathy, Gabriel Riesser, Jakob Veneday und Karl Theodor Welcker, um nur zehn der noch bekannteren zu nennen? Allenfalls Heinrich von Gagern, der Präsident der Paulskirche, hat einen Platz in den Geschichtsbüchern, aber auch der fällt blass aus im Vergleich zu anderen Heroen vor allem der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Für die Erinnerung an den Parlamentarismus haben wir Deutsche kein großes Herz.

Woran liegt es? Natürlich an der viel späteren deutschen Geschichte – mit zwei Weltkriegen, dem Nationalsozialismus und dem Holocaust, der verständlicherweise alles überschattet. Aber auch an einem geradezu verächtlichen Blick auf das deutsche Bürgertum, das angeblich demokratisch versagte – gerade auch in der Konfrontation mit dem politischen Genie des erzkonservativen Bismarck, der gleich nach der 48er Revolution die politische Bühne betrat. Dieser Blick verkennt das Erbe der Paulskirche, und zwar in zweierlei Hinsicht.

Erstens: Bismarck verfolgte die Einheit Deutschlands – mit Blut und Eisen, nicht durch Majoritätsbeschlüsse, wie er zynisch formulierte. Er erreichte sie, und damit auch ein zentrales Ziel praktisch der gesamten bürgerlich-liberalen Bewegung. Viele Revolutionäre von 1848 wollten die Einheit – wenn es sein musste, auch militärisch, sie waren durchaus begeisterte Nationalisten. Also wurde mit Bismarck ein zentrales Ziel erreicht. Als Kollateralschaden ergab sich die Spaltung des Liberalismus. Der Weg in die parlamentarische Monarchie nach britischem Muster war auf Dauer verstellt. Aber das Deutsche Reich wurde wenigstens zum geeinten Rechtsstaat mit fortschrittlichen Gesetzeswerken wie dem Bürgerlichen und dem Handelsgesetzbuch. Wirtschaftlich und wissenschaftlich war das Reich überaus erfolgreich, auch mit einem beachtlichen Platz für den Aufstieg des jüdischen Bürgertums, das in der 48er Bewegung eine prominente Rolle gespielt hatte und danach einen dynamischen wirtschaftlichen Fortschritt erlebte – dies allerdings, und das ist bitter, in einem zunehmend antisemitischen Klima.

Zweitens: Das Parlament, der Reichstag, der nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 die Arbeit aufnahm, blieb keineswegs eine schwache Institution. Sein politischer Einfluss nahm Schritt für Schritt zu. Bismarck und spätere Reichskanzler mussten immer stärker auf ihn Rücksicht nehmen. Dies lag auch an dem politischen Gewicht, das die politischen Parteien gewannen: Nationalliberale und Freisinnige, das katholische Zentrum, später die Sozialdemokraten sowie Konservative lieferten sich über mehr als vier Jahrzehnte intensive, kontroverse und niveauvolle Debatten, die in der Presse und der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden. Die parlamentarische Kultur lebte – durchaus in der Tradition von 1848. Herausragende Abgeordnete des Reichstags wie die Liberalen Rudolf von Bennigsen, Ludwig Bamberger und Eduard Lasker sowie Ernst Bassermann, Eugen Richter und Gustav Stresemann, Zentrumspolitiker wie Ludwig Windthorst und Matthias Erzberger, Sozialdemokraten wie August Bebel und Karl Liebknecht. Sie alle waren engagierte Parlamentarier und zum Teil glänzende Redner. Die jüngeren unter ihnen bahnten den Weg über das Kaiserreich hinaus in die Weimarer Republik, die bis 1933 ihre eigenen großartigen Parlamentarier hervorbrachte.

Seit fast 75 Jahren besteht nun die Bundesrepublik Deutschland, mit ihrem Parlament, dem Bundestag – zunächst in Bonn, nach der Wiedervereinigung seit 1999 in Berlin. Ohne jede Frage steht sie in der Tradition des Parlamentarismus, wie er sich seit 1848 entwickelt hat. Er kann sich in seiner Qualität durchaus mit dem lange bewunderten britischen Vorbild des Unterhauses messen, auch wenn man sich in Deutschland manchmal mehr von jener freimütigen, scharfen und humorvollen Diskussionskultur wünscht, die in Großbritannien eine besonders lange und stolze Tradition hat. Aber verstecken muss sich der deutsche Parlamentarismus nicht. Jedenfalls wird es Zeit, sich der eigenen Tradition stärker anzunehmen als dies bisher geschehen ist – und zwar auch jenseits der historischen Fachkreise, die sich professionell damit beschäftigen.

Das parlamentarische Leben von 1848 bis heute gehört mehr denn je in den Schulunterricht. Und zwar mit all seinen grandiosen Momenten, aber natürlich auch mit seiner Selbstpreisgabe gegenüber Hitler und den Nationalsozialisten durch das Ermächtigungsgesetz 1933. All dies ist Geschichte der deutschen Demokratie.

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