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Türkei
Wunder gibt es immer wieder

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© picture alliance/EPA-EFE | ORESTIS PANAGIOTOU

6. Februar, 04:17 Uhr…

Der 6. Februar 04:17 Uhr in der Früh markiert für Millionen von Menschen in der Türkei einen schmerzvollen Schicksalstag – tausende Menschen haben das Erdbeben der Stärke 7,7 nicht überlebt, für die Millionen von Überlebenden dagegen wird es immer ein Leben vor und nach dem 6. Februar geben. Ganze Landstriche wurden verwüstet, ein Großteil der knapp 15 Millionen Menschen in der Region steht vor dem sozialen und wirtschaftlichen Ruin.

Doch neben all der Zerstörung und dem Leid, die das Erdbeben über die Menschen gebracht haben, gab es auch manches Wunder – so die Rettung von zahlreichen Menschen aus den Trümmern selbst nach knapp 300 Stunden nach dem Erdbeben.

Wie schon 1999 – Griechenland und Türkei nähern sich nach dem Erdbeben wieder an

Ein weiteres Wunder betrifft das ewig toxische griechisch-türkische Verhältnis – Griechenland gehörte zu den ersten Ländern, das nur wenige Stunden nach Bekanntwerden des Erdbebens Rettungsmannschaften in die Region sendete. Wie bereits nach dem großen Erdbeben von 1999 – der Begriff Erdbeben-Diplomatie war damals zum ersten Mal aufgetaucht –  hatte Griechenland auch diesmal nicht eine Sekunde gezögert und war seinem notleidenden Nachbarn zur Hilfe geeilt. Die Bilder von der Rettung eines sechs jährigen Kindes durch das griechische Rettungsteam EMAK gingen durch die Welt und stehen seitdem sinnbildlich für die griechisch-türkische Annäherung. Insgesamt wurden etwa zehn Menschen  mit Hilfe der griechischen Rettungsmannschaften aus den Trümmern lebend gerettet.

Der griechische Außenminister Nikos Dendias war wenige Tage nach der Katastrophe in die Region gereist und hatte sich mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavuşoğlu getroffen. Bei der EU-Geberkonferenz zum Wiederaufbau der Erdbebenregion spielte der griechische Ministerpräsident Mitsotakis eine aktive Rolle.

Neben all der staatlich organisierten Unterstützung gab es aber auch eine regelrechte Solidaritätswelle in Griechenland, die von Schulen, Vereinen, Gemeinden, Gewerkschaften, Unternehmen, NGOs und einfachen Bürgern in Gang gebracht wurde. Mehr als 300 LKW  mit humanitären Hilfsmitteln machten sich in den Tagen nach dem Erdbeben auf den Weg von Griechenland in Richtung Türkei. Während die große griechische Zeitung Kathimerini am Tag nach dem Erdbeben solidarisch mit „Wir sind alle Türken“ titelte, bedankte sich die türkische Hürriyet auf Griechisch mit „Efharisto Poli File“ (Herzlichen Dank, Nachbar).

Vor dem Erdbeben: Säbelrasseln und Kriegsgeheule

Dabei war das bilaterale Verhältnis zwischen Ankara und Athen vor dem 6. Februar so schlecht wie schon lange nicht mehr – angesichts schlechter Umfragewerte vor der Schicksalswahl am 14. Mai suchte der türkische Präsident Erdogan verzweifelt nach einem Feindbild von außen, und für diese Rolle gibt es in der Türkei keinen geeigneteren Kandidaten als den ewigen Rivalen auf der anderen Seite der Ägäis. Das tägliche Säbelrasseln Erdogans in Richtung Athen hatte zuletzt nordkoreanische Dimensionen angenommen – „eines Nachts können wir kommen,“ war eine beliebte Drohung des türkischen Präsidenten, die den Nachbarn an die Schmach des Zypern-Kriegs von 1974 erinnern sollte. Erdogan, der wirtschaftlich und innenpolitisch nicht mehr allzu viele Erfolgsgeschichten aufweisen kann, versucht schon seit einigen Jahren außenpolitische Konfliktthemen mit Griechenland (Ausschließliche Wirtschaftszonen in der östlichen Ägäis, Status von einigen Inseln, Erdgasfelder vor Zypern etc.) in nationalistische Stimmung und somit in Stimmen umzumünzen. Den Spruch „Der Türke hat keinen Freund außer den Türken“ hat zwar nicht Erdogan erfunden, er hat ihn aber maximal für seine eigenen Zwecke ausgenützt. Mitsotakis, der selbst in Griechenland angesichts sinkender Zustimmungswerte in Bedrängnis steht, nahm diese Einladung Erdogans auf Konfrontation nur allzu gern an.

Dabei haben das Erdbeben und die darauffolgende Annäherung zwischen beiden Ländern gezeigt, dass die Differenzen weniger zwischen den Völkern, sondern vielmehr bei den Politikern bestehen. Die extreme Polarisierung in den Medien beider Länder trägt nicht selten dazu bei, dass lösbare Probleme künstlich aufgebauscht und von Politikern innenpolitisch instrumentalisiert werden. Auch wenn sich in letzter Zeit Erdogan in diesem Sinne hervorgetan hat, war auch in Griechenland die Türkei stets ein willkommenes Feindbild und Ablenkungsthema zugleich.

Die FNF bringt griechische und türkische Journalistinnen und Journalisten zusammen

Genau an dieser Stelle wollte die FNF ansetzen und einen Beitrag zur griechisch-türkischen Annäherung auf zivilgesellschaftlicher Ebene leisten. Hierfür wurde bereits im Dezember 2021 in Istanbul ein Workshop durchgeführt, an der führende griechische und türkische Experten aus der Welt der Wissenschaft, den Medien und der Zivilgesellschaft teilnahmen, um die wichtigsten Problemfelder im bilateralen Verhältnis zu identifizieren sowie mögliche zivilgesellschaftliche Lösungsvorschläge anzubieten.

Als Konsequenz dieses Workshops wurde nur wenige Tage nach dem Erdbeben ein Besuchsprogramm für Journalist:innen aus beiden Ländern nach Deutschland umgesetzt. Ziel war es, anhand intensiver Gespräche mit deutschen Medien und Stakeholdern mögliche Wege zum Abbau der extremen Polarisierung in den Medien zu erkennen. Diese Gespräche waren besonders gehaltvoll und weiterführend, weil auch in Deutschland in den vergangenen Jahren die innenpolitische Debatte immer toxischer geworden ist. Bei einem Expertenrundtisch im Rahmen des Besuchsprogramms debattierten die Teilnehmer mit deutschen Experten mögliche Lösungsansätze, und immer wieder wurde an das Erdbeben von 1999 erinnert, das seinerzeit zu einer Annäherung beider Länder geführt hatte, nachdem Ankara und Athen zuvor mehrmals an den Rand eines Krieges gekommen waren. Auch wenn das Erdbeben von damals zu einer Wiederannährung beider Nachbarn geführt hatte, waren die Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene zu schwach, um einen nachhaltigen Einfluss auf die Politik auszuüben. Konsequenz dessen war, dass die bilateralen Beziehungen nach einer kurzen Phase der Entspannung wieder ihren Normalzustand, also Konfrontation, erreichten. Diesmal müssten Zivilgesellschaft und Medien stärkerzu einer nachhaltigen Entspannung beitragen, so der Tenor der Diskussion.

Die FNF will im Rahmen des griechisch-türkischen Dialogs an diesem Gesprächsfaden zwischen Journalisten und Journalistinnen aus beiden Ländern festhalten und einen Beitrag zum Abbau der Spannungen leisten. Nur wenige Tage nach dem Besuchsprogramm wurden Podcasts aufgenommen, an der die Teilnehmer des Programms teilnahmen und ihre Erfahrungen mit einem größeren Publikum teilten. Hier geht es zum Podcast.  

So blieb die Hoffnung, dass es in Zukunft nicht weiterer Naturkatastrophen bedarf, damit Politiker beider Länder erkennen, dass Spannungen in der Ägäis die Völker nicht voranbringen. Die Solidarität der griechischen Bevölkerung nach dem verheerenden Erdbeben und die tief empfundene Dankbarkeit ihrer türkischen Nachbarn haben gezeigt, dass die Menschen in beiden Ländern in mancherlei Hinsicht weiter sind als ihre Politiker. 

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