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Südkorea
Harte Schule

Schüler warten darauf, den jährlichen College Scholastic Ability Test an einer Schule abzulegen

Schüler warten darauf, die jährliche Hochschulzulassung an einer Schule abzulegen

© picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Chung Sung-Jun

Jedes Jahr im Spätherbst gibt es in Korea einen ganz besonderen Tag. Banken und die Börse öffnen nicht oder später. Der Flugbetrieb wird zeitweise eingestellt. Bauarbeiterinnen und Händler versuchen möglichst leise zu sein. Millionen von Koreanerinnen und Koreanern sind in Gedanken bei den zahlreichen jungen Menschen, die an diesem Tag den vielleicht wichtigsten Test ihres Lebens haben.

Gegen Ende der Schulzeit nehmen rund 500.000 junge Koreanerinnen und Koreaner den sogenannte „College Scholastic Ability Test“ – den Suneung. Universitäten nutzen die Ergebnisse, um über die Zulassung zum Studium zu entscheiden. Dadurch haben die Ergebnisse des Tests auch weitreichende Auswirkungen auf den sozialen Status der jungen Koreanerinnen und Koreaner in ihrem weiteren Leben. Sie reichen von den Karriereaussichten bis hin zur Partnerwahl.

Laut der berühmten PISA-Studie hat Südkorea ein gutes Bildungssystem. Im Fach Mathematik landet es beispielsweise auf Platz 3, Deutschland kommt nur auf Rang 22. Auch in allen anderen Fächern ist Südkorea in der Spitzengruppe. Doch wer sich den Suneung und das koreanische Bildungssystem genauer anschaut, der erkennt auch viele Probleme.

Der Test ist weitgehend im Multiple-Choice-Format und dauert länger als acht Stunden. Er startet mit einem Abschnitt zur koreanischen Sprache. Auf diesen folgt der Mathematik- und Englischtest, letzterer mit der berüchtigten Hör-Aufgabe, für welche der Flugverkehr kurzzeitig eingestellt wird. Nach der Mittagspause folgt mit koreanischer Geschichte das letzte vorgeschriebene Fach. Danach können die Teilnehmenden weitere zwei Fächer auswählen, beispielsweise Politik und Physik. Als letztes folgt eine zweite Fremdsprache.  Die Schülerinnen und Schüler können sich hier unter anderem für Deutsch oder Arabisch entscheiden.

Problematisch ist, dass in der Regel der Besuch einer regulären öffentlichen Schule nicht ausreicht, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Schon mit Beginn der ersten Schuljahre gehen sehr viele Kinder am Abend und am Wochenende zur privaten Nachhilfe (sogenannte Hagwons). Viele Kinder verbringen in der Nachhilfe nahezu genauso viel Zeit wie im öffentlichen Schulsystem. Doch das ist teuer: Im Durchschnitt kostet der Privatunterricht einen koreanischen Haushalt ungefähr zehn Prozent des Einkommens.  Laut koreanischem Statistikamt gaben Haushalte im ersten Quartal dieses Jahres durchschnittlich mehr für private Nachhilfe aus als für Lebensmittel und Wohnen zusammen.

Die privaten Nachhilfeschulen machen insgesamt einen Umsatz von ungefähr 20 Milliarden Dollar jährlich. Das ist vergleichbar mit dem BIP des Saarlandes. In dieser lukrativen Branche sind manche der privaten Lehrerinnen und Lehrer zu Berühmtheiten aufgestiegen. Zum Beispiel Cha Kil-Yong, der mit seiner Online-Nachhilfe-Plattform nach eigenen Angaben in einem Jahr 6,6 Millionen Euro verdiente.

Die hohen Kosten vermindern die Chancengleichheit und sind eine schwere Belastung für arme Familien. Längst ist der Test deswegen auch ein wichtiges politisches Thema. Der Staatspräsident Yoon Suk Yeol hat versprochen, dass Schülerinnen und Schüler künftig auch ohne private Nachhilfe gute Testergebnisse erzielen können sollen. In diesem Jahr wies er das Bildungsministerium an, sogenannte „Killerfragen“, also Aufgaben, die über den Lehrplan der Schulen hinausgehen, aus den Tests auszuschließen. Präsident Yoon ordnete zudem an, dass der Test von 500 Lehrerinnen und Lehrern erarbeitet wird, die zuvor noch nie an den Suneung-Fragen mitwirkten. Der Test wird jedes Jahr unter hohen Sicherheitsvorkehrungen an einem geheimen Ort erstellt. Angesichts der Bedeutung sollen Fragestellung keinesfalls an die Öffentlichkeit gelangen.

Bildung wichtig für Prestige der Familie

Am Tag des Tests sind nicht nur die Schülerinnen und Schüler angespannt – die ganze Familie fiebert mit. So beten gläubige Eltern in der Zeit davor und vor allem am Tag des Testes vermehrt für ein gutes Abschneiden ihrer Kinder.

In Korea spielen die Bildung, der Job und der berufliche Stand enorme Rollen. Für das Ansehen der Familie ist es den Eltern enorm wichtig, dass die Kinder so gut wie möglich abschneiden und in einer prestigeträchtigen Universität studieren können. Der Traum der meisten Studierenden ist, einen Studienplatz bei einer der drei prestigeträchtigsten Unis zu erhalten: bei der der Seoul National University, der Korea University oder der Yonsei University. Dort werden nur die besten ein Prozent der Schülerinnen und Schüler angenommen.

Der Fokus auf Bildung kommt nicht zufällig. Er hat historische, soziale und politische Dimensionen. Der gesellschaftliche Druck hat seine Wurzeln im Neo-Konfuzianismus. Dieser wurde in der Zeit des ersten Jahrhunderts nach Christus von China nach Korea überliefert und spielte ab der Etablierung des Königreichs Joseon (1392-1897) enorme gesellschaftliche und politische Rollen. Der Neo-Konfuzianismus schreibt Bildung und Wissen große Bedeutungen zu. Im Gegensatz zum klassischen Konfuzianismus, welcher stark auf mythische Texte sowie auf Rituale fokussiert ist, legt der Neo-Konfuzianismus Wert auf praktische Kenntnisse, um das tägliche Leben zu verbessern.

Im Neo-Konfuzianismus wird die Ansicht vertreten, dass Bildung das Gemeinwohl fördert und somit für alle zugänglich sein sollte, unabhängig von sozialer Herkunft. Dabei wird Wissen als eine Tugend gesehen, welche das volle persönliche und soziale Potenzial entfaltet. Gleichzeitig definiert der Bildungsgrad den Status innerhalb in der Gesellschaft. Der Neo-Konfuzianismus hat ein stark kollektivistisches Familienbild. Entscheidend ist für das Ansehen eines Individuums also nicht nur dessen individuelle Bildung, sondern auch der Bildungsgrad der Angehörigen. Der Neo-Konfuzianismus hat Korea bis zur japanischen Besetzung stark geprägt.

Modernere Dimensionen von Bildung sind wirtschaftlich und politisch. Bis zur Befreiung von der japanischen Besatzung war Südkorea ein sehr armes Land mit wenigen Ressourcen. In den politischen Plänen zum Aufbau des Landes spielten deswegen die Bildung und die Schaffung von Humankapital wichtige Rollen für den wirtschaftlichen Aufschwung.

Mit der Fokussierung auf „Hightech“-Produkte, für welche Südkorea heute so bekannt ist, verstärkte sich dieser Trend noch einmal. Besonders begehrt sind Jobs bei den sogenannten Chaebols. Diese weltweit bekannten Unternehmen, wie Samsung oder LG, dominieren ihre Branchen und bieten die besten Karriereaussichten. In manchen Sparten sind sie die einzigen Arbeitgeber. Chaebols bezahlen ihre Angestellten deutlich besser – und ihr hohes Ansehen strahlt auf ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab.

Intensives Lernen und geistiges Training führten dazu, dass Südkorea eine der am besten ausgebildeten und intelligentesten Bevölkerungen hat, zumindest laut IQ-Tests. In der Erhebung von „The Intelligence of Nations“ der beiden Sozialwissenschaftler Richard Lynn und David Becker erreicht Südkorea den sechsten Platz mit einem durchschnittlichen IQ Wert von 102,35.

Manche Expertinnen und Experten kritisieren, dass das Land an Überqualifikation leide. Nahezu 70 Prozent der koreanischen Erwerbsbevölkerung hat einen Hochschulabschluss – möglicherweise seien das zu viele. In einer Studie der Bank of Korea wurde erhoben, dass 30 Prozent der Koreanerinnen und Koreaner in einem Job arbeiten, für den sie überqualifiziert sind.

Reform ist schwierig

Die hohen privaten Bildungskosten sind möglicherweise auch ein Grund für die niedrige Geburtenrate. Aufgrund der hohen eigenen Ansprüche an den Nachwuchs wollen viele koreanische Familien nur ein Kind haben, um Energie und Geld auf ein Kind zu konzentrieren. Andere verzichten ganz auf Kinder. Die Geburtenrate liegt in Korea bei nur 0,78 Kinder pro Frau. Sie ist damit die niedrigste der Welt. In Deutschland bekommt eine Frau durchschnittlich rund 1,46 Kinder. 2,10 Kinder werden benötigt, damit eine Bevölkerung nicht schrumpft.

Der wettbewerbsintensive Arbeitsmarkt und die Verbindung zwischen gesellschaftlichem Status und Bildung setzen junge Menschen extrem unter Druck – der mit dem Suneung den Höhepunkt erreicht. Vor allem herrscht keine Chancengleichheit. Wegen der Notwendigkeit privater Nachhilfe haben Schülerinnen und Schüler aus wohlhabenden Familien bessere Bedingungen.

Der Test und das intensive Lernen führen zudem zu mentalen Problemen bei einigen jungen Menschen, insbesondere weil er zu einer wichtigen Zeit der persönlichen Entwicklung stattfindet. Bei Männern wird diese Lebensphase durch den 18 bis 21 Monate langen Militärdienst unterbrochen. Das Land hat mit hohem Abstand die höchste Suizidrate aller Industriestaaten. Sie liegt mit 24 Fällen auf 100.000 Personen fast dreimal so hoch wie Deutschland.  Viele Koreanerinnen und Koreaner beklagen den großen Druck, dem die jungen Menschen ausgesetzt sind.

Andererseits haben Bildung und Wettbewerb in Korea einen extrem hohen Stellenwert – es sind die Tugenden, die Südkorea reich gemacht haben und kulturell tief verwurzelt sind. Entsprechend schwierig gestaltet eine grundlegende Reform des Systems.

Das zeigte sich dieses Jahr erneut. Auch wenn keine Frage über den offiziellen Lehrplan hinausging – wie von Präsident Yoon versprochen –  war der diesjährige Test wohl wieder hart. In einer Erhebung der südkoreanische Rundfunkanstalt „Educational Broadcasting System“ bewerteten 86 Prozent der Teilnehmenden den Test als extrem schwierig oder einigermaßen schwierig. Die Notwendigkeit für private Nachhilfe dürfte sich also wohl kaum verringern - und der Druck auf junge Koreanerinnen und Koreaner hoch bleiben.

Jannik Krahe studiert Politikwissenschaft an der Technischen Universität Darmstadt und absolviert derzeit ein Praktikum im Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Korea.

 

Quellen:

  • Suh Keong, Kwon; Moonbok, Lee; Dongkwang, Shin 2015: Educational assessment in the Republic of Korea: lights and shadows of high-stake exam-based education system; veröffentlicht durch University of Bristol Research
  • Jeong-Kyu, Lee 2006: Educational Fever and South Korean Higher Education; veröffentlicht im Revista Electronica de Investigacion Educativa Vol. 8, No. 1
  • Dawson, Walter 2010: Private tutoring and mass schooling in East Asia: reflections of inequality in Japan, South Korea, and Cambodia; veröffentlicht im Asia Pacific Educational Review Vol. 11
  • Weidman, John C. ; Park, Namgi 2000: Higher Education in Korea – Tradition and Adaptation
  • Understanding Korea No. 9: Korean Education - Educational Thought and Content