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Pressefreiheit
Mexiko: Mehr ermordete Journalisten zu Beginn des Jahres als insgesamt in 2021

Medienfeindliche Rhetorik und Gewalt gegen Journalisten in Mexiko
Die Wahrheit wird nicht durch das Töten von Journalisten getötet
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Photo: Articulo 19, Mexico on https://www.flickr.com/photos/77679119@N02/

Mexiko, nach Angaben der Organisation „Reporter ohne Grenzen“, das gefährlichste Land der Welt für Medienschaffende – das sich nicht im Krieg befindet, erlebt mit bereits acht ermordeten Journalisten zu Beginn des Jahres eine brutale Welle der Gewalt. Zum Vergleich: Im gesamten letzten Jahr wurden in Mexiko sieben Journalisten aufgrund ihrer Tätigkeit ermordet.

José Luis Gamboa Arenas wurde am 10. Januar aufgrund seiner Recherchen als engagierter Direktor einer Internetnachrichtenseite in der Stadt Veracruz ermordet. Sieben Tage später töten Unbekannte den Fotojournalisten Alfonso Margarito Martínez Esquivel in Tijuana, Baja California. Der Fotograf war dafür bekannt, dass er über die Polizei in einem der gefährlichsten Viertel der Welt berichtete. Nicht einmal eine Woche darauf wurde auch seine Kollegin, Lourdes Maldonado López, eine TV-Reporterin für verschiedene Medien, vor ihrem Haus, ebenfalls in Tijuana ermordet, sie informierte hauptsächlich über Politik und Korruption im Bundesstaat.

Bild: „Man kann die Wahrheit nicht mit Kugeln töten“
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Photo: Articulo 19, Mexico on https://www.flickr.com/photos/77679119@N02/

In 28 Städten protestierten daraufhin die Menschen im ganzen Land. Die Empörung konnte jedoch die nächsten Schwerverbrechen nicht verhindern: Am 31. Januar betraten 3 Männer das Büro von Roberto Toledo Barrera, einem Mitarbeiter der Website „Monitor Michoacán“ und erschossen ihn. Am 15. März wurde auch der Direktor desselben Nachrichtenportals – Armando Linares López – ermordet, der Drohungen gegen ihn und anderen Mitarbeitern angeprangert hatte. 

Mitte Februar schockiert der Mord von Heber López Vásquez in Salina Cruz, einem engagierten Journalisten aus Oaxaca, der die Website „RCP Noticias“ leitete. In den letzten 22 Jahren wurden in Mexiko insgesamt 153 Medienschaffende ermordet, seit 2003 sind weitere 23 spurlos verschwunden wie die mexikanische NGO „Artículo 19“ berichtet. Rund 33 dieser Morde fallen in die Zeit der amtierenden Regierung. Trotz der Brutalität und Häufigkeit sind diese beunruhigenden Zahlen in Mexiko nicht beispiellos. Bereits im November 2006 zum Ende der Amtszeit von Vicente Fox; im Juni 2011 unter Präsident Felipe Calderón sowie im Mai 2012 während der Amtszeit von Enrique Peña Nieto wurden ähnlich dramatische Mordraten an Journalisten registriert.

Protestierende gegen Gewalt an Journalisten
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Photo: Articulo 19, Mexico on https://www.flickr.com/photos/77679119@N02/

Es gibt jedoch Unterschiede im Vergleich zu den vergangenen Gewaltverbrechen: Im Jahr 2011 standen drei der vier Morde sehr wahrscheinlich im Zusammenhang, da drei Opfer beim selben Medienunternehmen arbeiteten. Zwei der drei ein Jahr darauf ermordeten Fotojournalisten aus Veracruz, recherchierten ebenfalls für dieselbe Zeitung. Die Ermordung traf somit meist Journalisten im Zusammenhang mit demselben Motiv. Im Gegensatz dazu befassten sich sechs der acht in diesem Jahr getöteten Journalisten nicht mit denselben Quellen. Sie waren auch nicht im selben Bundesstaat oder für dasselbe Medienunternehmen tätig. Es handelte sich somit überwiegend um isolierte Fälle. Die mörderische Gewalt gegen lokale Journalisten ist dabei nicht auf spezifische Bundesgebiete begrenzt, sondern breitet sich vermehrt kontextabhängig auf das gesamte Staatsgebiet aus.

Getötete Medienschaffende waren in der Mehrheit Lokalreporter unabhängiger Medien

Die überwiegende Mehrheit der seit dem Jahr 2000 in Mexiko getöteten Journalisten waren Lokalreporter unabhängiger Medien, Freiberufler, Besitzer eigener Medien – oft klein und mit geringen Ressourcen: Sie pflegten eine Website, führten ein Lokalradio, eine Wochenzeitung oder verteilen fotokopierte Broschüren. Es ist üblich, dass Lokalreporter in Mexiko mehr als eine reine Informationsrolle erfüllen. Sie decken oftmals Amtsmissbrauch auf und prangern diesen an. Lokale Journalisten überwachen die Verwendung öffentlicher Ressourcen, z.B. bezüglich der Reparatur von Bürgersteigen und Schlaglöchern auf den Straßen, den Mangel an Medikamenten im örtlichen Krankenhaus, die halbfertigen Schulen, wie es Moisés Sánchez Cerezo tat, der sich in der Stadtverwaltung mit Fragen der Rechenschaftspflicht befasste und 2015 von einem bewaffneten Kommando getötet wurde. Die Ermittlungen ergaben, dass es sich bei dem Drahtzieher des Mordes um den damaligen Bürgermeister von Medellín de Bravo in Veracruz handelte, der seither auf der Flucht ist. Journalisten übernehmen somit Funktionen wie der Überwachung der Verwendung öffentlicher Mittel, decken Korruptionsfälle auf und verschaffen ihren Gemeinden durch ihre Arbeit Gehör und dadurch Einfluss am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Im Jahr 2020 untersuchte die Journalistin María Elena Ferral die politischen Morde an drei Bewerbern um das Bürgermeisteramt der Gemeinde Papantla, für das sie schließlich selbst kandidierte. Die Ermittlungen ergaben, dass ein ehemaliger Kongressabgeordneter, der die lokale Politik kontrollierte, ihre Ermordung in Auftrag gab. Er ist auf aber auf freiem Fuß. Ähnliches geschah im Februar 2021: Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass der Angriff auf den Journalisten Heber López Vázquez in seiner journalistischen Arbeit begründet ist. Einer der Verhafteten ist der Bruder einer städtischen Beamtin, die der Reporter der Korruption beschuldigte. Der sechste in diesem Jahr ermordete mexikanische Journalist, Jorge Camero, wurde am 24.02 in Sonora, einer Stadt im Norden des Landes, erschossen. Nach Angaben in verschiedenen Medien war er im Bürgermeisteramt tätig und hatte kurz vor seinem Tot aufgrund von Beschuldigungen eine Beurlaubung beantragt. Anfang März wurde Juan Carlos Muñiz, ein Reporter, der insbesondere zu Themen des organisierten Verbrechens für das Nachrichtenportal Testigo Minero recherchierte, in Fresnillo, Zacatecas, getötet.

Das Erbe jahrzehnter langer hegemonialer Parteienherrschaft …und die Rolle des organisierten Verbrechens

Einer der möglichen Gründe für diesen tiefgreifenden Missstand kann in dem Erbe eines Landes gesehen werden, das sieben Jahrzehnte lang eine hegemoniale Parteienherrschaft erlebte. In den 72 Jahren, in denen die Partei PRI in Mexiko regierte, erfüllte der Journalismus eine offizielle Funktion: Mit wenigen Ausnahmen, finanzierten sich die meisten Medien von öffentlichen Konzessionen oder durch den Verkauf von staatlich kontrollierten Produkten. Ihre Existenzberechtigung bestand darin, Botschaften der Regierung zu veröffentlichen. Daran hat sich auch in den Folgejahren, als die Alleinherrschaft der PRI endete,  nur wenig geändert, die jeweiligen Regierungen privilegierten bestimmte Medien weiter. Diese Erwartungshaltung – aus Sicht der Regierung – ist nur schwer auszuräumen, insbesondere in Gemeinden, in denen demokratische Institutionen noch schwach sind.

Mexiko hat seit Jahrzehnten ein Problem - teilweise aufgrund seiner Geographie - mit organisierter Kriminalität, insbesondere der Drogenkriminalität, da ein Großteil der in Lateinamerika produzierten Drogen über Mexiko in die USA geschmuggelt werden. Über Jahrzehnte hinweg sind informelle Vereinbarungen mit mexikanischen Regierungsstellen und der Polizei gewachsen. In vielen Gegenden Mexikos stehen die lokalen Regierungen und die Polizei den Kartellen hilflos gegenüber oder arrangieren sich mit ihnen, mancherorts haben sich Kartellbosse auch in Ämter wählen lassen. Journalistische Berichterstattung über Kriminalität und Verbindungen zwischen Politik und Kartellen bedroht dann direkt die Interessen der Kartelle, die keine Skrupel haben, allzu investigative Journalisten umzubringen.   

Medien- und Meinungsfreiheit sind Säulen der Demokratie. Desinformation manipuliert und führt zu einem Vertrauensverlust in demokratische Institutionen. Wird die Verbreitung von Desinformation von Repräsentanten staatlicher Institutionen weiter angeheizt, indem die Arbeit von Journalisten in Frage gestellt und lächerlich gemacht wird, verringert dies auch die Hemmschwelle für direkte Gewalt gegen Medienschaffende. Beispiele für diese Herabwürdigungen sind auch bei 2022 staatlichen Pressekonferenzen zu finden: die Zeitschrift Nexos und das Internetportal Animal Político wurden als "Sprecher der Opposition" verunglimpft. Bestimmte Journalisten werden auch gerne als Mitglieder der "Mafia der Macht" diskreditiert.

Frontalangriffe auf die Pressefreiheit erreichen neue Dimension

Äußerst schwierige Bedingungen und brutale Gewalt sind für Medienschaffende in Mexiko nichts Neues. Wenn Gewalt gegen nicht-linientreue Journalisten geschildert wird, konzentriert sich die Berichterstattung zumeist auf den jeweiligen Mord. Weniger Aufmerksamkeit kommt der Analyse der Bedingungen zuteil, unter denen Journalisten täglich arbeiten. Der letzte Ausdruck von Gewalt wird oftmals aus verschiedenen Aggressionen gespeist: verbale Drohungen und finanzielle sowie bürokratische Schikane, mangelnde institutionelle Unterstützung – insbesondere für geringverdienende Lokaljournalisten ohne rechtliche Absicherung – und die Diskreditierung der journalistischen Arbeit durch politische Machthaber bei fast allgegenwärtiger Straflosigkeit für Kriminalität, die die Kartelle stärkt sowie unzureichende Schutzprogramme für Journalisten, führen zur extremsten Form der Zensur, die Mexiko gegenwärtig erlebt – einem der gefährlichsten Länder für Medienschaffende weltweit.

Niome Hüneke-Brown, FNF Projektassistentin in Lateinamerika

Aus einem Bericht von Alejandra Ibarra Chaoul. Sie ist Geschäftsführerin von Defensores de la Democracia (@ddld_mx), einer Organisation, die sich mit der Konstruktion von Erinnerung und neuen Erzählungen für den sozialen Wandel beschäftigt. Sie ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Autorin. Sie hat u.a. in Letras Libres, Gatopardo, Ríodoce, Pie de Página, The Washington Post, Rest of World und The Haitian Times veröffentlicht. Sie schrieb El Chapo Guzmán. El Juicio del siglo (Aguilar 2019)