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Frankreich
Französische Präsidentschaftswahlen nach der „Zeitenwende“

Wie Emmanuel Macron mit Rückenwind im Amt verbleiben könnte
Emmanuel Macron

Der amtierende französische Staatspräsident diskutiert mit Verbänden im Maison-Phare während seines Besuchs in Dijon

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picture alliance / abaca | Blondet Eliot/ABACA

Amtsbonus – dies ist wohl der Begriff, der neben den Themen „Kaufkraft“ und „Ukraine-Krieg“ den Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen 2022 am stärksten beeinflussen wird. Angesichts der „Zeitenwende“, wie sie vom deutschen Kanzler Olaf Scholz anlässlich des russischen Einmarschs in die Ukraine ausgerufen wurde, haben sich die Vorzeichen auch für die Wahlen in Frankreich im April dieses Jahres maßgeblich verändert. Drei Wochen vorher weisen alle Umfragen auf ein deutliches Ergebnis hin: Im ersten Wahlgang werden sich demnach – genau wie vor fünf Jahren ­– Emmanuel Macron und Marine Le Pen deutlich durchsetzen. Und auch der zweite Wahlgang scheint auf ein ähnliches Ergebnis wie bereits 2017 hinauszulaufen: Macrons (Wieder-)Wahl zum französischen Präsidenten. (1)

Dabei organisierte sich das Kandidat/innen-Feld 2022 noch später als bei vorhergehenden Wahlen: Mit den Rechtsaußen-Vertreter/innen Marine Le Pen und Éric Zemmour konnten zwei derzeit in den Umfragen über zehn Prozent liegende Kandidat/innen ihre Teilnahme an den Wahlen nur dank eines Pools an parrainage-Stimmen (Patenschaften) sichern. (2) Darüber hinaus gab der amtierende Präsident seine Kandidatur erst in letzter Sekunde bekannt – und dies in äußerst nüchterner Form über einen in Lokalzeitungen veröffentlichten Brief an die Bürger/innen Frankreichs. (3) Angesichts des Krieges und der Coronapandemie schien sich für Macron kein geeignetes Momentum zu ergeben, mit einer für ihn typischen glamourösen Inszenierung seine erneute und vor allem erwartete Kandidatur öffentlich zu machen. Als amtierender Präsident und dank des französischen Vorsitzes über die EU-Ratspräsidentschaft profitiert er aber von seiner Rolle als potenzieller Gesprächspartner beider Kriegsparteien und kann sich als Stabilitätsanker, Chefdiplomat und Verteidiger des demokratischen Systems in Szene setzen. Eine Rolle, die dem Präsidenten nicht nur qua Amt zugeschrieben ist, sondern dem (immer noch) jungen Macron wie auf den Leib geschneidert scheint.

Auch das linke Lager sortierte sich sehr spät. Zunächst drohten mehrere Kandidat/innen, darunter die ehemalige Justizministerin Christine Taubira (Parti radical de Gauche) und die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildago von der Parti Socialiste (PS), sich die Stimmen gegenseitig wegzunehmen. Zwar zog Taubira trotz eines klaren Vorwahlvotums zu ihren Gunsten ihre Kandidatur letztlich zurück, doch ändert dies nichts an der aussichtslosen Situation Hidalgos, die aktuellen Umfragen zufolge nicht einmal fünf Prozent der Stimmen erreichen würde. Am linken Rand gelang es Jean-Luc Mélenchon, der noch 2017 im ersten Wahlgang 19,5 Prozent der Stimmen gewonnen hatte, nun aber nicht mehr die vereinigte radikale Linke hinter sich weiß, nur knapp, die nötige Unterstützung in Form von parrainages zu bekommen. Er hat sich mit prognostizierten circa zwölf Prozent immerhin als potenziell erfolgreichster Linker im Kandidat/innen-Feld etabliert.

Seine Vorreiterstellung im linken Lager wird auch vom grünen Europa-Abgeordneten Yannick Jadot nicht gefährdet, der mit etwa sieben Prozent in den Umfragen für grüne Verhältnisse zwar recht ordentlich dasteht, jedoch nicht an die guten Ergebnisse der Grünen bei den vergangenen Europawahlen anknüpfen können wird. Somit könnte Mélenchon als Kandidat der Linken mit den besten Aussichten immerhin vom vote utile (4) („nützliches Wählen“) noch nicht festgelegter linker Wähler/innen profitieren. Allerdings ringt er mit seiner bislang russlandfreundlichen Grundhaltung, die er durch eine klare Verurteilung der Kriegshandlungen vergessen zu machen versucht.

Auch die Kandidat/innen am rechten Rand gerieten aufgrund ihrer bisherigen Putin-freundlichen Äußerungen unter Rechtfertigungsdruck. Das gilt vor allem für den Überraschungskandidaten Éric Zemmour. Der Publizist hat sich in den vergangenen Jahren in Frankreichs Medien als polemisierender Rechtspopulist einen zweifelhaften Ruf erarbeitet. Mit seiner Ankündigung, bei den Wahlen anzutreten, hat er die politische Rechte jenseits der Républicains aufgemischt und scheint der Dauerkonkurrentin Macrons, Marine Le Pen, nicht nur potenzielle Wähler/innen, sondern auch Parteifunktionär/innen bis hin zur Nichte Marion Marechal-Le Pen abspenstig zu machen.

Zemmour gelingt es, mit seinem Nationalpopulismus insbesondere diejenigen Wähler/innen für sich zu gewinnen, denen das Rassemblement National infolge des „Entteufelungs“-Kurses Le Pens der letzten Jahre zu gemäßigt erscheint, sowie diejenigen, deren Vertrauen in Politik und Gesellschaft besonders gering ist. (5) Er fischt damit vor allem unter denen, die sich zwischenzeitlich vollständig von der Politik abzuwenden drohten oder dies bereits getan haben, aber bei den vergangenen Wahlen zum Teil noch für Le Pen gestimmt hatten. Zemmour ist auch der Kandidat eines Teils derer, die sich einer radikalen Anti-System-Bewegung angeschlossen haben, die von Impfgegner/innen über radikalisierte Gelbwesten-Protestierende bis hin zu Nationalist/innen unterschiedliche Gruppen vereint. Allerdings hat er infolge des Ukraine-Kriegs geringfügig an Zustimmung eingebüßt, hatte er doch in den vergangenen Jahren immer wieder seine Bewunderung für Wladimir Putin ausgedrückt und zuletzt auch die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge abgelehnt. Aktuell liegt er in den Umfragen bei etwa 13 Prozent.

Davon wiederum scheint überraschenderweise Marine Le Pen zu profitieren, die noch 2017 ebenfalls als Verehrerin Putins aufgefallen war und nun schleunigst eine Distanzierung vorgenommen hat. Bis zum Kriegsbeginn hatte sie sich ein Rennen auf Augenhöhe mit Zemmour geliefert. Allerdings zeigt sich, dass sie offenbar aus Fehlern der vergangenen  Präsidentschaftswahlen gelernt und mit ihrer inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf wirtschafts- und sozialpolitikpolitische Themen die Prioritäten ihrer Wählerschaft richtig eingeschätzt hat. Obwohl sich ihre Standpunkte, was national-populistische Positionen angeht, keineswegs abgeschwächt haben, wirkt sie gegenüber Zemmour gemäßigter und kann damit Wähler/innen aus dem rechten Lager für sich gewinnen, die von Zemmour abgeschreckt und von Valérie Pécresse, der Kandidatin der Républicains (LR), nicht überzeugt sind. Ähnlich wie Mélenchon im linken könnte Le Pen letztlich vom vote utile im rechten Lager profitieren.

Die wirtschaftsliberale und konservative Kandidatin Pécresse hingegen schneidet in den Umfragen mit etwa zehn Prozent mittlerweile schlechter ab als beide radikalen rechten Kandidat/innen. Die Präsidentin der Region Île-de-France hat sich in den parteiinternen Vorwahlen knapp durchgesetzt, wird jedoch nur von Teilen der eigenen Partei unterstützt; die Républicains sind zerrissen zwischen einem moderaten und einem rechten Flügel und konnten sich nicht hinter ihrer Kandidatin vereinen. Gleichwohl hatte es zu Beginn des Wahlkampfs so ausgesehen, als hätte sie das Potenzial, in den zweiten Wahlgang einzuziehen. Ihr Profil ähnelt wirtschaftspolitisch dem Emmanuel Macrons, sie mischt aber gleichzeitig soziale Akzente in ihr Programm und verfolgt einen harten Kurs beim Thema Einwanderung. So versucht sie einen Spagat zwischen der Ansprache moderater konservativer Wähler/innen und dem Halten bzw. Rückholen derer, die dem Kurs Le Pens oder Zemmours folgen. Allerdings verlor sie angesichts als desaströs eingeschätzter Wahlkampfauftritte und strategischer Fehler merklich an Dynamik.

Ähnlich wie 2017 dürfte Macron damit erneut von einem Gelegenheitsfenster profitieren, gelingt es ihm doch offenbar, seinen Amtsbonus voll auszuspielen und die Schwäche seiner Gegner/innen auszunutzen. Damit scheint der Krieg Russlands gegen die Ukraine die sich seit der Wahl Macrons 2017 deutlich zutage getretenen Veränderungen im politischen System Frankreichs zu verfestigen (6): Auch 2022 werden voraussichtlich Vertreter/innen der progressiven Mitte und des rechten Rands im zweiten Wahlgang aufeinandertreffen und damit die seit Jahrzehnten gültige bipolare Ordnung und ihre wichtigsten Vertreter, die Parti Socialiste und Les Républicains, weiter marginalisieren. 

 

Dr. Daniela Kallinich ist Politikwissenschaftlerin. Sie hat am Göttinger Institut für Demokratieforschung zu Parteien und Politik in Frankreich und Deutschland geforscht und wurde mit einer Studie zum politischen Zentrum in Frankreich promoviert. Zuletzt ist von ihr erschienen: Das Mouvement Démocrate. Eine Partei im Zentrum der französischen Politik.

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31 März
31.03.2022 18:30 Uhr
Bonn

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Deutsch-französisch-polnische Perspektiven auf die französische Präsidentschaftswahl

(1) Alle hier zitierten Umfrage-Ergebnisse beziehen sich auf Cevipof: Enquête electorale francaise (ENEF) 2022, in: cevipof.fr [eingesehen am 22.03.22].

(2) Französische Präsidentschaftskandidat_innen müssen, um offiziell an der Wahl teilnehmen zu können, sogenannte Patenschaften von Amtsinhaber_innen, etwa von Bürgermeister_innen, haben. Dies ist für Vertreter_innen etablierter, auf kommunaler Ebene fest verankerter Parteien wesentlich einfacher als für Newcomer ohne Partei im Hintergrund. Angesichts des nicht umgesetzten Wahlversprechens von Mouvement Démocrate (MoDem) und Macrons En Marche, das Wahlrecht in Richtung zu mehr „Verhältniswahlrecht“ zu reformieren, war der parrainage-Pool eine Initiative François Bayrous, des Chefs der mit Macrons La République en Marche koalierenden Partei MoDem, um auch Wähler_innen deren Favorit_innen sonst nicht dabei gewesen wären, eine Stimmabgabe in ihrem Sinne zu ermöglichen. 

(3) Macron, Emmanuel: Lettre aux Français, in: avecvous.fr, URL: https://avecvous.fr/lettre-aux-francais [eingesehen am 22.03.22].

(4) Vote utile (nützliches Wählen) bezeichnet ein in Frankreich aufgrund des Mehrheitswahlrechts besonders relevantes Phänomen, wonach Wähler_innen ihre Stimmen mit Kalkül vergeben, um den Erfolg von Kandidat_innen abzusichern, auch wenn sie eigentlich lieber für eine andere Person gestimmt hätten, deren Erfolgschancen jedoch geringer sind.

(5) Vgl. Foucault, Martial: Le national-populisme séduit les défiants, in: Le Monde, 19.03.2022.

(6) Diese Entwicklung ist ideologisch bereits seit den 1990er Jahren sichtbar und äußerte sich bislang zum Beispiel bei Referenden über eine intensivierte europäische Integration, so zuletzt über den Verfassungsvertrag für die EU 2005. 2017 manifestierte sich dieser gesellschaftliche Graben erstmals auch bei der das politische Geschehen dominierenden Präsidentschaftswahl. 

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