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Internationale Politik
Richtungswahl in Kolumbien

In der Andennation stehen am 29. Mai Präsidentschaftswahlen an. Erstmals könnte mit Gustavo Petro ein Ex-Guerillero das südamerikanische Land regieren.
Gustavo Petro
© picture alliance / EPA | Mauricio Duenas Castaneda

Allgemeine Rahmenbedingungen

Wirtschaftliche Erholung

Duque hinterlässt seinem Nachfolger ein durch die Corona-Pandemie schwer gebeuteltes Land. Zum Jahresende und in den ersten Monaten des Jahres 2022 begann sich die Wirtschaft zu erholen und wies starke Wachstumsraten auf. Das Statistikamt DANE berechnete für das erste Quartal 2022 ein Wirtschaftswachstum von 8,5 Prozent. Die Armut ging laut DANE von 42,5 Prozent (2020) auf 39,3 Prozent (April 2022) leicht zurück. In absoluten Zahlen heißt das, die Zahl der Armen in Kolumbien sank von 21 Millionen auf 19,6 Millionen. Kolumbien steht vor der humanitären Herausforderung rund zwei Millionen Flüchtlinge aus Venezuela in die Gesellschaft zu integrieren. Duque hatte sich nach teilweise schlechten Umfrageergebnissen zuletzt wieder stabilisiert.

Sozialproteste

Innenpolitisch ist Kolumbien polarisiert. Im Jahr 2019 begannen ähnlich wie in anderen lateinamerikanischen Ländern Sozialproteste, die vor allem von der jüngeren, urbanen Generation getragen wurden. Bei den überwiegend friedlichen Protesten gab es teilweise einerseits gewaltsame Ausschreitungen gegen die Infrastruktur und Straßenblockaden sowie andererseits massive Polizeigewalt, die zum Tod von mehr als einem Dutzend Menschen führten. Menschenrechtsorganisationen kritisierten die staatliche Gewalt scharf. Die Demonstranten forderten ein besseres Bildungssystem, eine bessere Gesundheitsversorgung, mehr soziale Gerechtigkeit, Schutz für Menschenrechtlerinnen und Menschenrechtler, Aktivistinnen und Aktivisten sowie die komplette Umsetzung des 2016 mit der FARC-Guerilla ausgehandelten Friedensvertrages.

Lebensgefährliches Engagement

Politisch motivierte Gewalt ist in Kolumbien nach wie vor eines der größten Probleme. Immer wieder kommt es von paramilitärischen Gruppen oder Guerillabanden zu Anschlägen auf Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger. Das UN-Menschenrechtsbüro in Kolumbien bezifferte die Zahl der ermordeten Sozialaktivistinnen und -aktivisten im Jahr 2021 auf 78 Todesopfer. Für internationales Aufsehen sorgte vor wenigen Wochen ein Mordanschlag auf einen Anti-Mafia-Staatsanwalt aus Paraguay, der sich in Cartagena in Flitterwochen befand. Das Attentat zeigte einmal mehr, wie mächtig die organisierte Kriminalität in Lateinamerika über die Grenzen hinaus ist und agieren kann.

Guerillabanden und Paramilitärs

In Kolumbien sind nach wie vor zahlreiche illegale bewaffnete Gruppen aktiv, darunter die marxistische ELN-Guerilla und ehemalige Kämpferinnen und Kämpfer der linksextreme FARC-Guerilla, die sich dem Friedensprozess verweigern. Die kolumbianische Regierung wirft dem Nachbarland Venezuela vor, diesen Gruppen Rückzugsmöglichkeiten anzubieten, um von Venezuela aus gegen den kolumbianischen Staat zu agieren.

Der rechtsextreme paramilitärische „Clan del Golfo“ wurde durch die Auslieferung ranghoher Kommandanten in die USA, darunter Clan-Chef Dairo Antonio Usuga alias "Otoniel" - einer der meistgesuchten Drogenbosse der Welt, in der Kommandostruktur geschwächt. Der „Clan del Golfo“ ist für brutale Menschenrechtsverletzungen, Folter, sexuelle Gewalt, Mord und Terror verantwortlich. Die Bande reagierte auf die Auslieferungen im Mai mit einem „bewaffneten Streik“ zu Lasten der Zivilbevölkerung. Laut Menschenrechtsorganisation „Indepaz“ wurden Anfang Mai mehr als 175 Gewaltakte des „Clan“ gezählt, darunter insgesamt für 14 Morde. Lokale Medienschaffende wurden massiv bedroht. Der Umgang mit dieser politischen Gewalt links- und rechtsextremer Gruppen, die oft mit der organisierten Kriminalität verwoben ist, wird eine der großen Herausforderungen für die neue Regierung.

 

Die Kandidaten

Nach dem Rückzug der ehemaligen FARC-Geisel und Umweltpolitikerin Ingrid Betancourt, der einzigen Frau im Bewerberfeld um das Präsidentenamt, kristallisieren sich vier aussichtsreiche Bewerber für die Nachfolge von Ivan Duque heraus.

 

Gustavo Petro

Der ehemalige Bürgermeister von Bogota war in jungen Jahren Mitglied der linksgerichteten Guerilla-Bewegung M19. Petro will einen Umbau zu einer ökologischen Landwirtschaft vorantreiben und kündigte den Ausstieg aus der Ölförderung und des Bergbaus an. Im Wahlkampf seines Links-Bündnisses „Pacto Historico“ verspricht Petro den umfassenden Schutz von Aktivistinnen und Aktivisten. Er will den Tourismus ankurbeln und das Land sozial gerechter machen. „Kolumbien braucht Sozialismus“, sagte Petro in der Vergangenheit. Ein Friedensvertrag mit der ELN und eine friedliche Zerschlagung des Drogenhandels in Kolumbien sei möglich.

Den Befürchtungen seiner Kritiker, er wolle das Land zu einem autokratischen System nach dem Vorbild Venezuelas umbauen, widersprach er mit dem Versprechen, in vier Jahren die Präsidentschaft zum Ende der Amtszeit an seinen Nachfolger oder Nachfolgerin abzugeben.

Mit der Nominierung der afrokolumbianischen Vizepräsidentschaftskandidatin Francia Marquez (40) setzt Petro auf eine mit dem renommierten Goldmann-Umweltpreis ausgezeichnete Politikerin, die vor allem Stimmen an der unter Gewalt und Armut leidenden Pazifikküste einsammeln könnte. Marquez wurde im Wahlkampf von zahlreichen internationalen Medien porträtiert. Zuletzt leistete sie sich allerdings einige Fehler, darunter der Vorwurf, die hohen Eierpreise im Land seien Folge der hohen Importkosten aus Deutschland. Allerdings importiert Kolumbien keine Eier aus Deutschland, sondern produziert fast alle Eier selbst. Petro stellte in den letzten Wochen des Wahlkampfs die technische Zuverlässigkeit des Wahlsystems in Frage und sprach von der Möglichkeit des Wahlbetruges.

Federico Gutiérrez

Der ehemalige Bürgermeister von Medellin, Federico Gutiérrez (47), gilt als Vertreter des konservativen Lagers in Kolumbien, das sich im Bündnis „Equipo para Colombia“ zusammengeschlossen hat. Seine zentralen Wahlkampfversprechen sind der Kampf gegen die Korruption, eine Stärkung des Wirtschaftswachstums, die Verbesserung der Sicherheitslage und der Abbau von sozialen Ungleichheiten. Gutiérrez will dies mit einer Art dualen Programms zur Kriminalitätsbekämpfung erreichen – einerseits mit Sicherheitskräften, andererseits mit Sozialprogrammen des Staates.

Anders als Amtsinhaber Ivan Duque ist Gutiérrez, den seine Anhänger in Kolumbien „Fico“ rufen, kein direkter Vertreter des rechtskonservativen „Centro Democratico (CD)“, jener Partei, die vom immer noch einflussreichen Ex-Präsidenten Alvaro Uribe (2002 – 2010) dominiert wird. Er begrüßte allerdings ausdrücklich deren Unterstützung im Wahlkampf: „Wenn mich das Centro Democratico unterstützen will, willkommen". Anders als das CD stellte sich Gutiérrez verbal hinter den Friedensvertrag mit der FARC und versprach diesen auch umzusetzen. Er spricht sich für Friedensverhandlungen mit der ELN-Guerilla aus. Sollte es zu einer Stichwahl mit Petro am 19. Juni kommen, erwarten Analysten ein Kopf-an-Kopf-Rennen, da Gutiérrez das Lager der Petro-Skeptiker bündeln und hinter sich vereinen könnte.

Als Vize-Präsidentschaftskandidat setzt Gutiérrez auf Rodrigo Lara Sánchez (51), den Sohn des vom Medellin-Kartell unter Pablo Escobar 1984 ermordeten ehemaligen Justizministers Rodrigo Lara Bonilla.

Rodolfo Hernández

Der ehemalige Bürgermeister von Bucaramanga (Santander), Rodolfo Hernández (77), kultivierte im Wahlkampf seine Außenseiterrolle und inszenierte sich als „Outsider“ der kolumbianischen Politik, der das Establishment aufräumen wolle. Der abschließenden TV-Debatte der aussichtsreichsten vier Kandidaten blieb Hernández fern. Der TV-Sender CNN nannte ihn wegen Strategie den „Donald Trump“ Kolumbiens. Er stellt sich gerne als „Ingenieur Rodolfo Hernandez“ vor, was seine Verbundenheit zur „normalen“ Bevölkerung dokumentieren soll. Das zentrale Wahlkampfversprechen des Bau-Unternehmers ist die Bekämpfung der Korruption. Hernández wählt einen rustikalen, bisweilen harschen und beleidigenden Umgangston, was seine Authenzität unterstreichen soll. Ein Interview mit CNN führte er im Schlafanzug. Kritiker nennt er auch mal Drogenabhängige, Räuber und Diebe. Er rechtfertigt diesen unhöflichen Umgangston damit, mit seiner „Spontanität“. In einem Tweet erklärte er, er sei gegen Fracking als Methode zur Erdöl- und Gasförderung, für die Legalisierung der medizinischen Nutzung von Marihuana und für eine Abtreibung unter festgelegten Bedingungen. In den jüngsten Umfragen vor dem ersten Wahlgang lag er auf Rang drei nur wenige Prozentpunkte hinter Gutiérrez. Als Vizepräsidentschaftskandidatin setzt Hernandez auf die Universitäts-Dozentin Marelen Castillo Torres (53).

Sergio Fajardo

Nur wenige Chancen auf den Einzug in die Stichwahl werden dem ehemaligen Bürgermeister von Medellin und Gouverneur von Antioquia, Sergio Fajardo (65), eingeräumt. 2018 hatte er knapp den zweiten Platz und damit ein direktes Duell gegen den späteren Sieger Ivan Duque verpasst. Fajardo gilt als pragmatischer Vertreter der kolumbianischen Mitte, konnte sich im polarisierten Wahlkampf der lauten Töne aber kaum Gehör für seine Lösungsvorschläge verschaffen. Ein Motto seines Wahlkampfes ist „Bildungspolitik statt Populismus“. Ein zentrales Wahlkampfversprechen ist der Umbau und die qualitative Verbesserung des kolumbianischen Bildungssystems. Als Kandidaten für das Vizepräsidentschaftsamt setzt Fajardo auf Luis Gilberto Murillo, den ehemaligen kolumbianischen Umweltminister und Ex-Gouverneur der besonders unter der Gewalt leidenden überwiegend Provinz Choco.

Laut jüngsten Umfragen kommt Gustavo Petro etwa auf rund 41 Prozent, gefolgt von Federico Gutiérrez (24%) und Rodolfo Hernández (22%). Sergio Fajardo würde etwa 5 Prozent der Stimmen holen. Allerdings weisen die Umfragen teilweise deutliche prozentuale Unterschiede auf, so dass eine wirkliche Prognose sehr schwierig ist. Die meisten Umfragen sehen Petro in einer wahrscheinlichen Stichwahl als Sieger.

 

Tobias Käufer arbeitet als Lateinamerika-Korrespondent für deutschsprachige Medien in Kolumbien.