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Israel
Heilung im Ausnahmezustand: Die Arbeit von NATAL mit traumatisierten Israelis im Krieg

Israelis halten Plakate mit Geiseln und US-Flaggen, während sie die Freilassung aller im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln fordern

Israelis halten Plakate mit Geiseln und US-Flaggen, während sie die Freilassung aller im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln fordern.

© picture alliance / Middle East Images | Itai Ron

Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 befindet sich Israel in einem andauernden Kriegszustand. Noch immer befinden sich Geiseln in Gaza in Gefangenschaft. Städte stehen durch die Hamas und der Huthis unter Raketenbeschuss. Zudem sind die Spannungen mit dem Iran jüngst in einen offenen und intensiven gegenseitigen Beschuss mit Raketen eskaliert. Dabei kam es zu dutzenden Tote und vielen verletzten. Hinzu kommt die ständige Rekrutierung von Ehemännern, Söhnen und Brüdern, welche das Familienleben massiv beeinträchtigt. In diesem anhaltenden Ausnahmezustand ist die psychologische Belastung enorm. Doch wer kümmert sich um die seelischen Wunden?

Kristof Kleemann, Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Jerusalem, sprach mit Ifat Morad, Direktorin für Internationale Beziehungen bei NATAL – dem Israel Trauma und Resilienz Zenter. Die überparteiliche NGO bietet seit Jahrzehnten psychosoziale Unterstützung in Israel an. Das folgende Gespräch gibt einen persönlichen Einblick in ihre Arbeit.

Kristof Kleemann: Frau Morad, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Können Sie zunächst erklären, was die Kernaufgabe von NATAL ist und wie sich diese im Laufe der Jahre verändert hat?

Ifat Morad: Ich bin seit 17 Jahren bei NATAL. Wir sind eine überparteiliche, gemeinnützige Organisation. Unser Ziel ist es, die führende Instanz im Bereich Traumaresilienz in Israel zu sein - durch innovative Therapieansätze, Forschung und öffentliche Aufklärung über die psychologischen Auswirkungen von Krieg und Terror. Gegründet wurde NATAL vor 28 Jahren von der Kunsttherapeutin und Philanthropin Jude Yovel Recanati. In den Anfangsjahren lag unser Fokus auf Traumata nach Kriegen wie dem Jom-Kippur-Krieg. Doch mit den Jahren kamen viele weitere Konflikte und zahlreiche Terrorwellen im ganzen Land dazu. Wir haben früh erkannt: Traumabehandlung ist  preventiv und proaktiv zu sehen. Es reicht nicht aus, erst nach der Krise zu reagieren - wir müssen Resilienz aufbauen, bevor die Krise eintritt. Als der 7. Oktober kam, begannen wir nicht bei null, sondern aktivierten Pläne, die wir über fast drei Jahrzehnte hinweg entwickelt hatten. NATAL ist da, um Menschen ins Leben zurückzuführen.

Kristof Kleemann: Wie hat sich der 7. Oktober konkret auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Ifat Morad: Am 7. Oktober um 6:28 Uhr morgens wurde unsere Notrufnummer über sämtliche Nachrichtensender eingeblendet. Sie erreichte die Schutzräume in Orten wie Be'eri und Kfar Aza. Innerhalb weniger Minuten gingen Tausende Anrufe bei uns ein, eine wahre Flut von Hilferufen. Die Menschen flüsterten: „Wo kann ich mich verstecken?” oder „Ich bekomme keine Luft.” Wir haben umgehend unseren Notfallmodus aktiviert. Alle verfügbaren Fachkräfte wurden mobilisiert, um die Hotline zu besetzen. Noch in derselben Stunde haben wir Einsatzteams entsandt und die klinische Versorgung ausgeweitet. Die Geschwindigkeit unserer Reaktion war entscheidend!

Kristof Kleemann: Der Konflikt mit dem Iran spitzt sich nun dramatisch zu. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?

Ifat Morad: Im Grunde befinden wir uns seit dem 7. Oktober im Krisenmodus - alle Geiseln sind noch immer nicht befreit, die Einsätze in Gaza dauern an und die seelischen Wunden sind präsent. Vor dem Angriff hatten wir rund 100 Therapeutinnen und Therapeuten und etwa 400 Personen in wöchentlicher Behandlung. Heute sind es über 600 Therapeutinnen und Therapeuten und mehr als 3.000 zu behandelte Personen. Und das jede Woche! NATAL hat sich in kürzester Zeit massiv vergrößert, um diesem gewaltigen Bedarf gerecht zu werden. Und genau diese ausgebaute Infrastruktur brauchen wir nun dringender denn je.

Unsere Hotline ist rund um die Uhr erreichbar – mit professioneller Aufsicht und kollegialer Fallbesprechung. Seit der Eskalation mit dem Iran – einem „Krieg im Krieg“ – arbeiten wir zusätzlich eng mit Städten wie Bat Yam oder Tel Aviv zusammen, um kommunale Sozialdienste zu unterstützen, beispielsweise durch Schulungen und psychosoziale Begleitung. Mobile Einheiten führen Hausbesuche bei akut belasteten Menschen durch. Wir bieten Webinare für Eltern von Soldaten, evakuierte Familien und eine verunsicherte Öffentlichkeit an. Die Webinare werden in Hebräisch, Arabisch und Englisch angeboten. Auf unserer Website stehen zudem Informationsangebote bereit. Außerdem betreuen wir Helferinnen und Helfer, also Einsatzkräfte und Fachpersonal, die selbst unter Sekundärtrauma und Erschöpfung leiden. Dies ist keine einmalige Krise, sondern ein Zustand, den unser Chefpsychologe Dr. Boaz Shalgi als „rollendes Trauma“ beschreibt: eine sich ständig weiterentwickelnde Realität, auf die wir mit Erfahrung, Professionalität, Mitgefühl und Vorbereitung reagieren.

Kristof Kleemann: „Die israelische Gesellschaft durchlebt immer wieder neue Konflikte. Wie beeinflusst das die kollektive Psyche des Landes?

Ifat Morad: Das beschäftigt uns sehr. Wir wünschen uns, dass unsere Kinder in einem Geist von Demokratie, Pluralismus und friedlichem Zusammenleben aufwachsen, unabhängig von Religion oder Herkunft. Doch stattdessen erleben sie: Erst kommt Corona, dann der Krieg und dann der nächste Krieg. Viele leben im Überlebensmodus. Und Trauma nährt Angst, und Angst wiederum erzeugt Aggression, Hass und Hoffnungslosigkeit. Wir versuchen, dieser Entwicklung mit emotionaler Bildung und therapeutischer Unterstützung entgegenzuwirken, in Einzelsitzungen, Gruppenangeboten oder in Schulen. Seit 2014 erhalten wir für diese Programme auch Unterstützung von der Bundesregierung. Besonders in Schulen im Süden des Landes führen wir vorbereitende Programme für von Bedrohungen betroffene Kinder durch. Emotionale Heilung stiftet Hoffnung und Stabilität und bewahrt demokratische Grundhaltungen.

Kristof Kleemann: Was können andere Länder aus dem Modell von NATAL lernen?

Ifat Morad: Die israelische Realität ist gewissermaßen ein emotionales Versuchslabor für internationale Krisen, sei es Krieg, Terror oder Pandemie. Wir haben 9,5 Millionen Menschen, die unter Dauerbelastung leben und trotzdem zur Arbeit fahren, Kinder großziehen und den Alltag meistern. Das gelingt nur durch ein gestuftes, spiralförmiges Modell mit Hotline, Einzeltherapie, Gruppenangeboten und wiederkehrender Betreuung in verschiedenen Lebensphasen. Es geht nicht um punktuelle Hilfe, sondern um kontinuierliche Begleitung. Unsere Expertise fließt auch in internationale Kooperationen ein, beispielsweise mit Deutschland oder der Ukraine. Wir passen unsere Methoden an andere Kontexte an. Dieses skalierbare und integrierte Modell kann auch anderen Ländern als Vorbild dienen.

Kristof Kleemann: Was gibt Ihnen Hoffnung – inmitten all dieser Dunkelheit?

Ifat Morad: Jeden Morgen trifft sich unser Leitungsteam via Zoom. Wir checken ein, teilen unsere Sorgen und halten zusammen. Viele von uns sind selbst betroffen: Ich habe zwei erwachsene Söhne in der Armee und einige Kolleginnen und Kollegen wurden evakuiert. Aber wir alle teilen eine gemeinsame Mission: Menschen zurück ins Leben zu begleiten – Schritt für Schritt. Dieses Ziel gibt uns Kraft. Es ist eine große Verantwortung, aber auch eine, die Mut und Hoffnung stiftet. Wir sind tief dankbar für die Unterstützung unserer internationalen Partner und Freunde, insbesondere aus Deutschland, sowohl von staatlicher Seite als auch aus der Philanthropie. Ohne sie könnten wir diese Arbeit nicht leisten.

NATAL hat sich zu einer tragenden Säule in Israels emotionalem Krisenmanagement entwickelt. Der mehrschichtige, resilienzorientierte Ansatz geht weit über akute Hilfe hinaus. Für viele Israelis, die in ständiger Unsicherheit leben, ist NATAL nicht nur ein Ort der psychologischen Versorgung, sondern auch ein Hoffnungsträger und eine Perspektive für den Wiederaufbau. Für weitere Informationen zur Arbeit von NATAL besuchen Sie gerne folgenden Link: https://www.natal.org.il/en/