Frankreich
Frankreich und das Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende: Ein Wendepunkt im Umgang mit Sterbehilfe?

Demonstrantin in Paris
© picture alliance / Hans Lucas | Xose BouzasEs wäre die größte gesellschaftspolitische Reform der letzten zehn Jahre. Der Gesetzentwurf „in Bezug auf das Lebensende“, der am 27. Mai in erster Lesung mit 305 gegen 199 Stimmen in der französischen Nationalversammlung verabschiedet wurde, zielt darauf ab, erstmals eine gesetzlich geregelte Sterbehilfe in Frankreich einzuführen. Vorgesehen ist, dass volljährige Patienten, die an unheilbaren, mit schweren und therapieresistenten Leiden einhergehenden Erkrankungen leiden, unter strengen Bedingungen Zugang zu assistiertem Suizid oder – wenn sie physisch dazu nicht mehr in der Lage sind – auch zu Euthanasie (Tötung durch einen Arzt) erhalten können. Dazu sind fünf kumulative Kriterien notwendig. Auch in Deutschland wurde bereits über eine rechtliche Regelung zur Sterbehilfe debattiert – jedoch ohne Erfolg, sodass ein rechtliches Vakuum bleibt.
Der französische Gesetzentwurf basiert auf den Empfehlungen des Nationalen Ethikrates (CCNE) sowie auf den Ergebnissen des Bürgerkonvents zur Sterbehilfe („Convention citoyenne sur la fin de vie“) aus dem Jahr 2022. Die 184 per Los ausgewählten Bürger sprachen sich damals mehrheitlich für die Einführung einer Sterbehilfe aus. Zwei Fälle haben die öffentliche Debatte zudem besonders geprägt: Der jahrelange Rechtsstreit um Vincent Lambert, einen 32-jährigen Mann, der 2009 ins Wachkoma fiel. Während seine Ehefrau für das Abstellen der lebenserhaltenden Maßnahmen eintrat, klagten seine Eltern bis zur letzten Instanz dagegen. Der Fall endete 2019 nach einem jahrelangen Rechtsstreit mit Lamberts Tod – und löste eine landesweite Debatte über den Umgang mit schwerstkranken Patienten aus. Ein weiterer prägender Fall war der von Alain Cocq, einem unheilbar kranken Mann, der 2020 öffentlich Präsident Macron bat, ihm aktive Sterbehilfe zu ermöglichen. Nach der Absage des Élysée-Palastes machte Cocq seinen Leidensweg öffentlich – und verweigerte tagelang Nahrung und Flüssigkeit, um ein Zeichen für das Recht auf ein würdiges Sterben zu setzen. Schließlich entschied er sich für einen assistierten Suizid in der Schweiz und machte dies öffentlich – ein moralischer Weckruf für viele Franzosen.
In Reaktion darauf schlug der Abgeordnete Olivier Falorni des zentristischen Mouvement Démocrate (MoDem/Renew Europe Fraktion) im April 2021 einen Gesetzesentwurf vor und Präsident Emmanuel Macron rief z 2022 eine Ethik-Kommission und und einen Bürgerkonvent ein. Nachdem der Gesetzentwurf allerdings auf Grund der Obstruktionspolitik der Republikaner im Parlament scheiterte, legte die Regierung im Frühjahr (auf Grundlage der Empfehlungen des Ethikrates von 2023) 2024 einen neuen Gesetzentwurf vor, der sowohl die Möglichkeit einer Sterbehilfe als auch den Ausbau der Palliativversorgung vorsah. Allerdings fand die gesetzliche Debatte mit der unerwarteten Auflösung der Nationalversammlung am 9. Juni 2024 erneut ein vorläufiges Ende. Nun soll es beim dritten Anlauf 2025 also klappen. Initiator ist erneut der Abgeordnete Olivier Falorni. Nachdem der damalige Premierminister Michel Barnier keine Wiederaufnahme der Debatte veranlasste, entschied sein Nachfolger François Bayrou, der das Amt im Januar 2025 übernahm, den ursprünglichen Gesetzesentwurf in zwei separate Texte zu unterteilen: einen zur aktiven Sterbehilfe und einen zur Palliativversorgung. Diese Entscheidung stieß auf Kritik, da viele befürchteten, dass die Trennung die Verabschiedung der Sterbehilfe-Regelung verzögern oder verhindern könnte. 1,1 Milliarden Euro will der Staat in den kommenden zehn Jahren nun in die Palliativmedizin investieren, um sicherzustellen, dass niemand den Wunsch zu sterben äußert, weil er nicht palliativ versorgt werden kann.
Ein französisches Modell für aktive Sterbehilfe
Das Gesetz sieht ein mehrstufiges Prüfverfahren vor, bei dem die Freiwilligkeit, die Urteilsfähigkeit und die medizinischen Voraussetzungen (unheilbare Krankheit im fortgeschrittenen oder Endstadium, unerträglicher Leidensdruck, nicht rein psychisches Leiden) sorgfältig von einem Ärzteteam geprüft werden. Die Gesetzesinitiative folgt auf das Claeys-Leonetti-Gesetz von 2016, in dessen Rahmen eine Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen im Rahmen der Palliativversorgung für unheilbar Kranke mit unerträglichem Leidensdruck bereits möglich ist. Jedoch wird das Gesetz von Kritikern als unzureichend eingeschätzt, da kein aktiver Sterbewunsch geäußert werden kann. Das französische Gesetz gibt nun die Möglichkeit zum assistierten Suizid, sodass einem Patienten eine tödliche Substanz überreicht wird, der er sich selbst zuführt oder – in Ausnahmefällen – zur Euthanasie, also der Verabreichung einer solchen Substanz durch einen Arzt nach mehrmaliger Versicherung des Patienten. Während der Gesetzesdebatte war diese doppelte Möglichkeit Gegenstand hitziger Debatten. Auch wenn der Gesetzentwurf nun vorliegt, bleiben viele Fragen ungeklärt. Umstritten ist vor allem, welche Patientengruppen Anspruch auf die Sterbehilfe haben sollen: Nur Menschen in der letzten Lebensphase oder auch chronisch Leidende ohne unmittelbar absehbaren Tod, aber mit unheilbarer Krankheit? Auch die Gewissensklausel für medizinisches Personal sorgt für Diskussionen. Viele Ärzte befürchten eine schleichende Normalisierung oder gar moralischen Druck auf den kranken Patienten gegenüber ihren Angehörigen und vor dem Hintergrund eines ohnehin überlasteten Gesundheitssystems.
Zugleich bleibt die Versorgung mit Palliativmedizin ein Schwachpunkt. Trotz der Ankündigungen verweisen Experten auf die noch immer unzureichende Verfügbarkeit von Palliativversorgung insbesondere in ländlichen Regionen. Die Gefahr sei, dass sich Menschen für die Sterbehilfe entscheiden, weil sie keine echte Wahl haben.
Ob das Gesetz bis Ende 2025 verabschiedet werden kann, ist ungewiss. Nach der Verabschiedung in erster Lesung in der Nationalversammlung wird der Text im Herbst an den Senat gehen, in dem die konservativen Républicains dominieren und den Text sicher um einiges entschärfen könnten. Staatspräsident Macron hat im Falle eines Scheiterns auch bereits die Idee der Einberufung eines Referendums in Aussicht gestellt. Es ist davon auszugehen, dass er – auch vor dem Hintergrund seiner schlechten Beliebtheitswerte – neben seiner herausgehobenen Stellung in der Außenpolitik wohl auch als maßgeblicher Unterstützer einer der wichtigsten Gesellschaftsreformen in Frankreich in die Geschichte eingehen möchte.
Ein Gesetz, das Politik und Zivilgesellschaft spaltet
Die Debatte über das Vorhaben hat tiefe Gräben innerhalb der französischen Gesellschaft und auch in der Politik sichtbar gemacht. Trotz der (für französische Verhältnisse) als äußerst zivilisiert wahrgenommenen Debatte in der Nationalversammlung spaltet der Umgang mit dem freiwilligen Sterben die politischen Lager in Frankreich. Selbst innerhalb der Regierungsmehrheit zwischen dem zentristischen liberalen Lager um die Präsidentenpartei Renaissance sowie den konservativen Républicains (LR) gibt es keine homogene Linie, sodass die Abgeordneten bei ihrer Abstimmung in der Nationalversammlung vom Fraktionszwang befreit wurden. Während etwa die Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet (Renaissance-Partei), das Gesetz unterstützt, äußerte Premierminister François Bayrou (Modem) – ein gläubiger Katholik – grundsätzliche Vorbehalte: er hätte sich enthalten, wäre er Abgeordneter, obgleich der Gesetzesentwurf auf einen Abgeordneten seines eigenen politischen Lagers zurückgeht. Wohingegen der französische Präsident Emmanuel Macron auf X die Verabschiedung im französischen Parlament als « wichtigen Schritt » hin zu mehr « Brüderlichkeit […], Würde und Menschlichkeit » begrüßte, äußerte Premierminister Bayrou insbesondere Kritik an der Strafbarkeit von Personen, falls diese versuchen, den kranken Patienten von seinem Todeswunsch abzubringen. In der Tat ist dieser Passus sehr umstritten und wurde im Rahmen der Debatte verschärft: 30 000 Euro Strafe sowie zwei Jahre Gefängnis sind aktuell vorgesehen, sollte ein Arzt versuchen, den Patienten von seinem Todeswunsch abzubringen. Allerdings sollen die Ärzte selbst grundsätzlich darüber entscheiden, ob sie Sterbehilfe durchführen möchten oder nicht.
Auch in der Zivilgesellschaft verläuft die Debatte nicht unumstritten: Organisationen wie die ADMD (Association pour le droit de mourir dans la dignité) kämpfen seit Jahrzehnten für ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Aus Ihrer Sicht geht der Gesetzesentwurf jedoch nicht weit genug, da beispielsweise todkranke Personen, die rein körperlich gesehen keine Möglichkeit haben, ihren Willen mehr zu äußern, vom Gesetzesentwurf ausgenommen werden, selbst wenn sie eine Patientenverfügung unterschrieben haben. Auf der anderen Seite warnen Pflegeverbände, Ärzte und religiöse Gruppen vor einem möglichen ethischen Dammbruch.
Deutschland: Rechtslücke verursacht Unsicherheit
Auch in Deutschland ist das Thema Sterbehilfe hochumstritten, allerdings unter anderen Vorzeichen. Mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidassistenz (§ 217 StGB) für verfassungswidrig. Die Karlsruher Richter betonten, das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse auch die Freiheit, sich das Leben zu nehmen – und dabei Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein klarer gesetzlicher Rahmen für diese Freiheit fehlt jedoch bis heute.
Im Bundestag wurden 2023 mehrere Gesetzesinitiativen eingebracht. Die liberalste stammte von einer Gruppe ehemaliger FDP-Abgeordneter. Sie forderten ein niedrigschwelliges Verfahren zur Inanspruchnahme von Suizidhilfe, verpflichtende Beratung durch eine anerkannte Stelle, jedoch ohne ärztliche Gutachten oder enge medizinische Voraussetzungen, eine Wartefrist von zehn Tagen zwischen Beratung und Durchführung und klare Strafbarkeitsgrenzen zum Schutz vor kommerzieller Ausbeutung. Der Entwurf sah die Entscheidung zur Lebensbeendigung als Ausdruck persönlicher Selbstbestimmung in allen Lebenslagen zu schützen – ohne eine zu enge medizinische oder therapeutische Bewertung vorauszusetzen. Im Juli 2023 scheiterte der Vorstoß ebenso wie ein restriktiverer Gegenentwurf, der Suizidhilfe auf schwer und unheilbar kranke Personen beschränken sollte.
Seitdem herrscht ein rechtliches Vakuum: Die Suizidhilfe ist erlaubt, aber nicht geregelt. Für Ärzte, Hospize und Beratungsstellen bedeutet das eine erhebliche Unsicherheit. Zugleich wächst der Druck, den verfassungsrechtlichen Anspruch der Betroffenen auch praktisch umzusetzen – etwa durch bundesweite Beratungsangebote oder Rechtssicherheit für Unterstützende.
Ein europäisches Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Sorgfaltspflicht
Frankreich reiht sich mit seinem Vorhaben in eine wachsende Gruppe europäischer Länder ein, die Sterbehilfe legalisiert haben – unter jeweils eigenen Voraussetzungen:
- In den Niederlanden und Belgien ist aktive Euthanasie seit über zwei Jahrzehnten erlaubt, wenn ein unerträgliches Leiden vorliegt und die Zustimmung freiwillig und wohlüberlegt erfolgt. In Belgien ist dies auch bei Minderjährigen unter bestimmten Bedingungen möglich.
- Spanien legalisierte 2021 sowohl Euthanasie als auch assistierten Suizid, nach Prüfung durch eine unabhängige Kommission.
- Die Schweiz erlaubt assistierten Suizid, sofern dieser nicht aus eigennützigen Motiven erfolgt, aber keine Euthanasie, . Ärztliche Mitwirkung ist möglich, aber nicht zwingend – was Organisationen ermöglicht, auch ausländische Staatsbürger zu begleiten.
- In Luxemburg gilt ein Modell ähnlich dem belgischen, mit Fokus auf Patientenautonomie und medizinischer Sorgfaltspflicht.
Frankreich nimmt damit einen Platz in einer dynamischen europäischen Bewegung ein, die versucht, das Spannungsfeld zwischen individueller Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Verantwortung neu zu justieren. Die Auseinandersetzung über Sterbehilfe berührt fundamentale Fragen: Was bedeutet ein würdevolles Sterben? Wo liegen die Grenzen staatlicher Fürsorge? Und wie kann eine Gesellschaft sicherstellen, dass Selbstbestimmung nicht zum Ausdruck von Verzweiflung wird?
Die kommenden Monate dürften in Frankreich entscheidend sein. Ob die Debatte auch auf weitere EU-Staaten überschwappt, wird sich zeigen. Die französische Botschaft in Berlin hat im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung Ende Mai einen deutsch-französischen Dialog über die Sterbehilfe organisiert. Angesichts des bereits stattfindenden Sterbetourismus stellt sich in der Tat die Frage, inwieweit die europäischen Länder im Sinne einer Wertegemeinschaft die jeweiligen Regelungen ihrer Nachbarländer berücksichtigen, wenn nicht angleichen sollten. Es geht um mehr als Gesetzesparagraphen. Es geht um die Frage, wie Bürger in Europa sterben wollen – und ob sie das selbst bestimmen dürfen.