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100. Todestag
Hugo Preuß: Ein liberaler Verfassungsschöpfer

Hugo Preuß

In der Mitte sitzend: Friedrich Naumann und Hugo Preuß, 1919

© Archiv des Liberalismus

Der Staatsrechtler Hugo Preuß, der vor hundert Jahren starb, ist weniger durch sein wissenschaftliches Werk als durch seine Federführung bei der Entstehung der Weimarer Reichsverfassung bekannt geworden. Verfassungstheorie und Verfassungspraxis gingen hier eine fruchtbare Symbiose ein.

In der historischen Rückschau gibt es mehrere Liberale, die an der Entstehung moderner Verfassungen im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich beteiligt waren. Man denke an Friedrich Christoph Dahlmann bei Ausarbeitung der Reichsverfassung von 1849 oder Theodor Heuss einhundert Jahre später beim Bonner Grundgesetz. Auch Friedrich Naumann hat einen Verfassungsentwurf für die spätere Weimarer Republik vorgelegt. Und wenn man unterhalb der Reichs- und Bundesebene sucht, lässt sich die Zahl liberaler Verfassungsschöpfer noch einmal deutlich vermehren. In dieser Reihe steht – nicht völlig vergessen, aber doch zu Unrecht wenig bekannt – das Wirken des Berliner Staatsrechtlers Hugo Preuß, auf dessen Entwürfe die Weimarer Reichsverfassung von 1919 maßgeblich zurückgeht. Das Grundkonzept seiner Staatstheorie hatte er bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt.

Hugo Preuß entstammte einer jüdischen Berliner Kaufmannsfamilie. 1860 geboren, studierte er ab 1879 an den Universitäten Berlin und Heidelberg Rechtswissenschaften und wurde mit einer Untersuchung zum Römischen Recht 1883 an der Universität Göttingen promoviert. Danach ging er nicht in die Rechtspraxis, sondern schlug die wissenschaftliche Laufbahn ein und habilitierte sich 1889 mit einer Studie über „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie“. Der Bewunderer des bedeutenden Genossenschaftstheoretikers Otto von Gierke wurde als Jude aber zunächst an keine deutsche Universität berufen. Erst 1906 erhielt er eine ordentliche Professur, bezeichnenderweise an der Berliner Handelshochschule und nicht an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Preuß publizierte 1902 eine Arbeit über „das städtische Armenrecht in Preußen“ und 1906 den ersten Band einer unvollendet gebliebenen Geschichte des deutschen Städtewesens. Im Weltkrieg veröffentlichte er schließlich eine Darstellung über „Das deutsche Volk und die Politik“, in der er Obrigkeitsstaat und Volksstaat einander gegenüberstellte und nachdrücklich die Parlamentarisierung des Reiches forderte.

Hugo Preuß

Der Staatsrechtler Hugo Preuß.

© Archiv des Liberalismus

Preuß hatte sich bereits seit den 1890er Jahren für den organisierten Liberalismus politisch engagiert. Er wurde als Mitglied der linksliberalen Freisinnigen Volkspartei in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt und wirkte als ehrenamtlicher Stadtrat zwischen 1910 und 1918 für die Fortschrittliche Volkspartei im Magistrat Berlins. War er im Kaiserreich ausschließlich kommunalpolitisch tätig gewesen, so änderte sich dies 1918. Preuß wurde Staatssekretär, kurzzeitig sogar Reichsinnenminister und schließlich Reichskommissar für Verfassungsfragen, der vom Rat der Volksbeauftragten mit der Erstellung eines Entwurfs beauftragt wurde. Im Dezember 1918 war er Mitgründer der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und kandidierte erfolgreich für den Preußischen Landtag, in dem er bis zu seinem Tod 1925 Mitglied war. Posthum erschienen von ihm eine vergleichende Verfassungsgeschichte Deutschlands und Westeuropas sowie Bruchstücke eines Kommentars zur Weimarer Reichsverfassung.

In diesem Verfassungskommentar unter dem Titel „Reich und Länder“, den übrigens der liberale Staatsrechtler Gerhard Anschütz 1928 herausgab, wird der Anteil von Preuß in seiner Funktion als Reichsinnenminister an der Weimarer Reichsverfassung des Jahres 1919 mehr als deutlich. Von Preuß stammten Denkschriften im Vorfeld und in Begleitung der Verfassungsdiskussion, er verhandelte im Verfassungsausschuss der Deutschen Nationalversammlung, bevor schließlich die Verfassungsvorlage am 11. August 1919 verabschiedet wurde. Preuß ging es inhaltlich vor allem um eine vernünftige Machtbalance zwischen den Institutionen von Parlament und Präsident, er legte Entwürfe für die Ausgestaltung des Wahlrechts, des Ausschusswesens und der Notstandsgesetzgebung vor. Schließlich schlug er eine Neugliederung des Reiches vor, deren Kernelemente die Dezentralisierung des Reiches und die Aufteilung Preußens sein sollte. Obwohl sich Preuß zunächst gegen einen Grundrechtsteil in der Verfassung gesträubt hatte, fügte er einen solchen auf Wunsch des Reichspräsidenten Friedrich Ebert in seinen Entwurf ein.

Viele Grundgedanken von Hugo Preuß wurden in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 umgesetzt. Preuß war durch das Beispiel von Ebert und mit Unterstützung durch Max Weber in dem Glauben, dass ein starker Reichspräsident als einErsatzkaiserein sinnvolles Gegengewicht angesichts der Gefahr extremistischer Parteien im Reichstag sein könnte. Beide, Ebert und Preuß, starben 1925, im selben Jahr als Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt wurde, der das Verfassungswerk von Preuß 1933 dem Regime der Nationalsozialisten opferte.

Nach 1945 wurden Preuß die angeblichen Mängel der Verfassung von 1919 angelastet, die zum Untergang der Republik beigetragen und ihn sogar mitverursacht hätten. Es ging hier insbesondere um die (zu) starke Stellung des Reichspräsidenten, aber auch um die Möglichkeit der Volksentscheide auf Reichsebene, die eine Mobilisierung durch die politischen Extreme begünstigt hätten. Die moderne verfassungshistorische Forschung hat in den letzten Jahren den Sachverhalt geradegerückt. Weimar scheiterte nicht wegen, sondern trotz der Verfassung. Aber nach 1945 galt unter dem Motto „Bonn ist nicht Weimar“ eine Art erinnerungspolitischeAnti-Preuß-Agendaals gesetzt. Dies tat Preuß als „Vater“ der Verfassung von 1919 und ebenso seinem „Kind“ unrecht, wie man heute klarer denn je erkennt.

Erst vor wenigen Tagen hat der Bundespräsident im Rahmen einer Veranstaltung zum 100. Todestag an den deutsch-jüdischen liberalen Staatsrechtslehrer erinnert und seine Leistung gewürdigt. Im Archiv des Liberalismus in Gummersbach ist nicht zufällig ein Raum nach demVerfassungsvater“ Hugo Preuß benannt. Zurecht gehört Preuß, der bereits Anfang der 1920er Jahre vor den extremen politischen Kräften warnte, in die Ahnengalerie jener Liberalen, die für eine wehrhafte Demokratie eingetreten sind. Angesichts der derzeitigen Situation einer Demokratie unter Druck ist das sicherlich kein geringes Verdienst.