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Bildung
Eisige Zeiten für die Lesekompetenz

Child Reading

Child reading 

© Anita Jankovic via Unsplash

Die Ergebnisse der neuesten IGLU-Studie liegen vor. Mithilfe dieser internationalen Vergleichsstudie lassen sich Aussagen über die Entwicklung der Lesekompetenz von Grundschulkindern treffen. Für Deutschland hat die Bildungsforschung – wieder einmal – besorgniserregende Zahlen parat.

Wer in eisiger Umgebung ein Iglu bauen will, braucht dafür nicht nur viel Schnee, sondern vor allem ausreichend Zeit. Zeit benötigte auch die Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2021 (IGLU), deren Ergebnisse vor einigen Tagen vorgestellt worden sind. Das Team um die Dortmunder Bildungsforscherin Nele McElvany bietet auf über 260 Seiten die vielleicht besten Einblicke in die Entwicklung der Lesekompetenzen von Grundschülern in den letzten 20 Jahren. Die kalten Zahlen lassen dabei jeden Bildungsverantwortlichen frösteln: Zwischen 2001 und 2006 war die mittlere Lesekompetenz der deutschen Schülerinnen und Schüler von 539 Punkten auf 548 gestiegen,  doch seitdem folgt ein beispielloser Absturz. 2011 lag der mittlere Wert bei 541 Punkten, 2016 bei 537 Punkten und 2021 nur noch bei 524 (!) Punkten. Nur in Schweden und den Niederlanden war der Rückggang der Lesekompetenz in den vergangenen 20 Jahren größer, doch die Gesamtergebnisse sind immer noch besser als in Deutschland. Gewonnen haben dagegen Singapur, die Türkei und Hongkong – hier ist der Anstieg der Lesekomptenz am größten und auch im Gesamtergebnis liegt man deutlich vor Deutschland. (S.116).

Machen ein paar Punkte weniger einen Unterschied? Leider ja, denn hinter den Zahlen stehen massive Kompetenzverluste. Ludger Woessmann vom Münchner ifo-Institut spricht dann auch zurecht von einem „Desaster für die betroffenen Kinder“. Mangelnde Lesekompetenz „zerstört Lebenschancen“, so Woessmann weiter, und „unterminiert unseren zukünftigen gesellschaftlichen Wohlstand.“ Auch die Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger zeigt sich besorgt: „Gut lesen zu können, ist eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg“, so die Ministerin, „Es ist daher alarmierend, wenn ein Viertel unserer Viertklässlerinnen und Viertklässler beim Lesen als leistungsschwach gilt.“ Bemerkenswert ist auch der Anstieg der sogenannten Leistungsstreuung, die lediglich in Bulgarien höher liegt: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die nur über Kompetenzen auf dem niedrigen Niveau der Stufen 1 und 2 verfügen, ist von 17% (2001) auf 25,4% (2021) gestiegen – ein Verstehen von Texten ist auf diesen Kompetenzstufen noch nicht möglich.

Ursachenforschung

Überraschend sind die Ergebnisse indes nicht. Bereits der IQB-BIldungstrend 2021, der im vergangenen Herbst vorgestellt worden ist, zeigte ähnliche Tendenzen. Die IGLU-Studie ermöglicht nun aber einen gezielten Vergleich mit anderen Ländern, die ja beispielsweise durch die Coronapandemie in gleicher Weise herausgefordert waren. Eine erste Erklärung liefert die Studienchefin McElvany, die auf den starken Zusammenhang zwischen Elternhaus und Bildungserfolg verweist. Ganz überzeugend ist dies allerdings nicht: Blickt man beispielsweise auf die Gymnasialpräferenz der Lehrkräfte unter Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten under Lesekompetenz, dann kann man seit 2001 kaum eine klassenbasierte Abweichung feststellen (S.242). Anders gesagt: Eine Gymnasialempfehlung, die auf kognitiven Fähigkeiten und der erwiesenen Lesekompetenz basiert, ist wünschenswert, darüberhinausgehende Abweichungen legen allerdings eine mögliche Diskriminierung aufgrund der Herkunft nahe. Seit 2001 ist hier allerdings kein verstärkter Trend zu beobachten. In den Worten der Studienautorinnen und –autoren: „Eine systematische Veränderung im Zeitverlauf ist nicht feststellbar, wobei die Odds Ratios 2016 am größten und 2006 am geringsten ausfallen und somit für 2016 auf vergleichsweise große Chancenunterschiede und 2006 auf vergleichsweise niedrige Chancenunterschiede hindeuten.“

Der Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg bleibt dennoch ein zentrales Thema der deutschen Bildungsdiskussion. Dies ist wenig verwunderlich, liegt die mittlere Lesekompetenz in der „Oberen Dienstklasse“ bei 567 Punkten, bei den Un- und angelernten Arbeitern dagegen nur bei 507 Punkten (S.165). Das Problem: Die Leistungsunterschiede zeigen sich bereits deutlich vor der Einschulung, was beispielsweise an unterschiedlichen Möglichkeiten bezüglich der frühkindlichen Bildung liegt. Wer zum Zeitpunkt seiner Einschulung bereits viele Jahre eine vorgelesen bekommen hat und Zuhause von Bücherstapeln umgeben ist, hat nunmal einen nahezu uneinlholbaren Vorsprung gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern.

Letztendlich ist dies auch die Krux der vorliegenden Studie: sie ist auf die Grundschule fokussiert, doch ob der Rückgang der Lesekompetenzen auf ein Versagen des (schulischen) Bildungssystems zurückzuführen ist, ist fraglich. So fordern die Forscherinnen und Forscher beispielsweise, „dass bereits vor Beginn der Schulzeit eine fundierte frühe Förderung alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft“ (S.24) notwendig ist – dies kann durchaus als Hinweis verstanden werden, dass bei der Einschulung die maßgeblichen Weichen bereits gestellt sind. Auch die Veränderung der sozialen Struktur an Grundschulen wird kaum in den Blick genommen. Doch gerade hier, so könnte man vermuten, liegt ein Schlüssel zur Erklärung der vorliegenden Entwicklung verboren. Bereits der Nationale Bildungsbericht 2022 hatte darauf hingewiesen, dass drei sogenannte „Risikolagen“ („das Risiko formal gering qualifizierter Eltern, die soziale und die finanzielle Risikolage“) maßgeblich als Prädiktor für schulischen Erfolg dienen. Eine naheliegende Hypothese wäre, dass diese Risikolagen in den vergangenen Jahren deutlich stärker an deutschen Grundschulen finden – doch die Datengrundlage ist dünn.

Handlungsbedarf

Unabhängig von den Ursachen ergibt sich ein klarer Auftrag an die Bildungspolitik. Im Vordergrund sollte die Förderung der frühkindlichen Bildung stehen, wozu auch verpflichtende Sprachstandserhebungen und – bei entsprechenden Defiziten – auch der verpflichtende Besuch von Vorschulklassen gehören sollte. Während der Grundschulzeit sind gezielte Fördermaßnahmen für schwächere Kinder ebenfalls empfehlenswert. Auch die Bildungsforschung spielt eine wichtige Rolle, zeigt doch das Beispiel Hamburg, dass belastbare Daten ein wichtiger Pfeiler für zielgerichtete Bildungspolitik sind. Abschließend gehört zu den „Learnings“ allerdings auch die Einsicht, dass der Bildungspolitik durchaus Grenzen gesetzt sind. Die Erwartung, dass Schulen soziale Unwuchten kompensieren können, kann bestenfalls teilweise erfüllt werden.